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Politik

Afghanistan: Der Kampf der Hilfsorganisationen

17. Oktober 2021

Vor zwei Monaten übernahmen die Taliban die Macht in Afghanistan. Die Lage im Land hat sich verschärft, es droht eine Hungerkrise. Und Hilfsorganisationen, die das Leid lindern könnten, stehen vor massiven Hürden.

Afghanistan | Afghanische Kinder im Dorf Budhak
Jedes zweite Kind ist in Afghanistan von Mangelernährung bedrohtBild: Bilal Guler /AA/picture alliance

Eigentlich wäre Hilfe überall nötig. Schon jetzt wüsste jeder dritte Afghane nicht, wie er zu seiner nächsten Mahlzeit käme. Das sagte der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, Anfang September. Im nächsten Jahr könnten 97 Prozent der fast 40 Millionen Einwohner in Armut leben. "Die Situation im Land verschlechtert sich täglich", sagt Simone Pott von der Welthungerhilfe der DW. Dörfer im Norden des Landes hätten sehr unter den Kämpfen vor der Machtübernahme der Taliban vor zwei Monaten gelitten. Schulen seien zerstört, ebenso wie Gesundheitsstationen. "Die Lage für die Menschen, für die Familien ist ziemlich schwierig."

Hautnah vor Ort erlebte das der Arzt Tankred Stöbe. Er war für Ärzte ohne Grenzen erst vor wenigen Wochen in Herat im Westen Afghanistans. Die Zustände in der Klinik, die Ärzte ohne Grenzen dort betreibt, beschreibt er als dramatisch: schwer mangelernährte Kinder, Menschen, die aus anderen Landesteilen zur Klinik kämen, ohne Lebensgrundlage, weil Ernten ausfielen. "Wir haben ein 18 Monate altes Kind behandelt, das nur 3,5 Kilogramm wog und beim Eintreffen in der Klinik fast nicht mehr am Leben war", sagt Stöbe der DW. Das Kind sei wenig später gestorben. Das Klinikpersonal arbeite am Limit, statt 200 Patienten kämen 400 am Tag.

Bei einer solch dramatischen Situation schlägt normalerweise die Stunde der Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen, die katholische Caritas oder auch die Welthungerhilfe. Aber alle diese großen Organisationen sehen sich seit der Machtübernahme durch die radikalislamischen Taliban Mitte August mit Problemen konfrontiert. Die Caritas und die Welthungerhilfe mussten alle ihre internationalen Mitarbeitenden abziehen.

Stefan Recker hat als Caritas-Büroleiter die Machtübernahme der Taliban in Kabul erlebtBild: Hamdard/Welthungerhilfe

Stefan Recker leitet das Büro der Caritas in Kabul, momentan von Deutschland aus. Wenn es nach ihm ginge, erzählt er der DW am Telefon, würde er lieber heute als morgen zurückkehren. Aber das gebe die Sicherheitslage noch nicht her: "Straßenraub in entlegenen Gegenden ist ein Problem, wie es das vor der Machtübernahme nicht der Fall war. In Kabul kam es wohl zur Entführung von wohlhabenden Afghanen." Auch Recker selbst, so die Befürchtung der Caritas-Leitung, würde im Land eine Entführung drohen.

Kollabierende Wirtschaft, Menschen ohne Bargeld

Sowohl die Caritas als auch die Welthungerhilfe und Ärzte ohne Grenzen nennen als eines der größten Probleme, mit denen sie zu kämpfen haben, die zusammenbrechende Wirtschaft im Land. Syed Moosa Kaleem Al-Falahi, Chef der Islamischen Bank Afghanistans, einem der führenden Geldinstitute des Landes, sagte der BBC, das afghanische Bankensystem stehe vor dem Zusammenbruch. Schon jetzt bildeten sich lange Schlangen vor den Banken. Viele Menschen versuchten, ihre gesamten Ersparnisse abzuheben, da das Bargeld knapp wird. Schon vor der Machtübernahme der Taliban war Afghanistan erheblich auf ausländisches Geld angewiesen. Das ist nun auf Grund von Sanktionen eingefroren und fehlt im Land.

Vor einer Bank hat sich eine lange Schlange gebildetBild: Oliver Weiken/dpa/picture alliance

Schwerwiegende Konsequenzen hat das beispielsweise für den Gesundheitssektor. Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen beschreibt, dass die Klinik der Organisation überfüllt sei, weil staatliche Kliniken schließen müssten. "Ärzte erhalten seit Monaten kein Gehalt mehr. Das afghanische Gesundheitssystem war schon immer unzureichend, aber nun bricht das wenige, das da war auch noch weg. Wir versuchen einiges aufzufangen, aber können die medizinischen Bedürfnisse nicht abdecken. Wir sind auch nicht Ärzte ohne Limit."

Kein Geld, keine Medikamente – eine Klinik in Afghanistan

03:04

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Eigentlich habe Ärzte ohne Grenzen geplant gehabt, die eigene COVID-Spezialklinik zu schließen, aber da nun ein anderes Krankenhaus dichtmachen musste, habe man sich entschieden, die COVID-Station sogar noch aufzustocken.

Frauen in Angst

Neben einer schwer angeschlagenen Wirtschaft leiden Frauen besonders unter der Machtübernahme der Taliban. Mädchen dürfen vielerorts nicht mehr eine weiterführende Schule besuchen oder an Universitäten studieren. Die Auswirkungen spüren auch die Hilfsorganisationen. "Für uns arbeiten viele junge, unverheiratete Frauen", sagt Recker von der Caritas. "Die haben Angst vor einer Zwangsverheiratung an einen Taliban-Kämpfer." Ins Büro kämen sie deshalb nicht mehr und versuchten stattdessen, so gut es gehe, von zu Hause aus zu arbeiten. Aber auch die Männer lebten in Angst. Die Caritas, erzählt Recker, habe ein Schichtsystem eingeführt, damit nicht alle lokalen Mitarbeiter ins Büro kommen müssten und möglichst viel zu Hause bleiben könnten.

Auch die Welthungerhilfe beobachtet Veränderungen für Frauen. "Im Norden des Landes gibt es viele Haushalte, die von Frauen geführt werden", sagt Simone Pott. Gerade diese Familien stünden vor großen Problemen, da die Frauen ohne männliche Begleitung nicht hinausgehen könnten und auch kein Einkommen hätten.

In einer ländlichen Region nehmen Frauen an einer Ernährungsschule der Welthungerhilfe teilBild: Hamdard/Welthungerhilfe

Über all dem schwebt der anstehende Winter, der, so befürchten die Hilfsorganisationen, die Lage noch verschlimmern wird. Die Welthungerhilfe plane deshalb aktuell eine "Winterhilfe", sagt Pott. Decken sollen verteilt werden und Hygienekits für Frauen mit Binden und Wasser. Doch auch hier steht die Organisation vor logistischen Problemen. "Wie bezahlen wir die Händler der Decken, wie kriegen wir die Sachen über die Grenzen?", sagt Pott. "Das ist eine echte logistische Herausforderung. Wir sind täglich in Gesprächen und im Ringen, wie wir das machen können."

Verhandlungen mit den Taliban

Dabei könnten bei der Welthungerhilfe bald auch wieder internationale Mitarbeiter vor Ort helfen. Die Organisation habe, so Pott, eine schriftliche Bestätigung der Taliban, dass humanitäre Hilfe in allen Provinzen erlaubt sei. "Wir prüfen sehr genau, unter welchen Bedingungen die Mitarbeitenden zurückkehren können", sagt Pott. "Im Großen und Ganzen planen wir die Rückkehr in den nächsten Wochen." Allerdings könne sich die Lage in Afghanistan jederzeit ändern.

Für die Caritas ist die Lage derzeit noch zu instabil, um internationale Kräfte ins Land zu schicken. Das liege vor allem daran, dass die Taliban eine heterogene Gruppe seien, sagt Recker. "Die Führungselite, die auch in Doha verhandelt, sagt das eine. Aber die Fußsoldaten, die ja eigene Interessen haben, machen das andere." Das habe dazu geführt, dass lokale Mitarbeiter schon beschimpft und bedroht worden seien, obwohl die Führungselite sagt, dass die Caritas im Land arbeiten könne. Aber radikalere Untergruppen würden das nicht unbedingt befolgen. "Das müsste kohärenter werden", sagt Recker.

Afghanistan vor dem wirtschaftlichen Kollaps

02:30

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Für die Menschen vor Ort bedeutet das: weiterhin Leid, das kaum gelindert wird. Denn selbst wenn die Hilfsorganisationen irgendwann wieder mit internationalem Personal vor Ort sind, bleibt das Problem der Liquidität. Wegen der Sanktionen und Bankenkrise können auch große Organisationen die Gehälter ihrer lokalen Kräfte nicht bezahlen. Für Recker von der Caritas wären die Vereinten Nationen hier eine Lösung: "Die UN könnten für uns in Afghanistan als Bank auftreten. Das heißt, die Vereinten Nationen bringen in ihren Flugzeugen Geld nach Afghanistan. Wir könnten das im Prinzip dort abholen und damit Hilfsprogramme finanzieren. Aber dahinter liegen Verhandlungen, die dauern und Zeit kosten."

Abhilfe sollen Einmalzahlungen leisten. Die EU kündigte vor einem G20-Sondergipfel eine Milliardenhilfe für Afghanistan an. "Der Wille der internationalen Gemeinschaft zu helfen ist da", sagt Pott von der Welthungerhilfe. Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen sieht das kritischer. Solange die Sanktionen in Kraft seien, seien Einmalzahlungen unzureichend. Die Leidtragenden am Ende: die Menschen Afghanistans.

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