1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Afghanistan-Desaster: "Keine klassische Evakuierungsmission"

15. November 2024

Deutschlands frühere Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer lobt im Untersuchungsausschuss die Bundeswehr und hätte sich eine schnellere Hilfe für die afghanischen Ortskräfte gewünscht.

Bewaffnete Bundeswehr-Soldaten in Tarnuniformen und mit großen Rucksäcken besteigen in Afghanistan einen Militär-Transporter vom Typ C17.
Die letzten Bundeswehrsoldaten verließen 2021 nach 20-jährigem Militäreinsatz Afghanistan Bild: Torsten Kraatz/Bundeswehr/picture alliance/dpa

Warum haben die radikalislamischen Taliban am 15. August 2021 die afghanische Hauptstadt Kabul erobert? Und warum wurden die von den USA angeführten internationalen Truppen vom schnellen Siegeszug ihres Gegners überrascht? Um solche und viele anderen Fragen geht es im Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags, der ein Jahr nach dem militärischen Desaster seine Arbeit aufgenommen hat.

Fast 100 Sitzungen haben seitdem stattgefunden – öffentlich und hinter verschlossenen Türen. Am Mittwoch wurde die damalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karenbauer befragt. Sie war eine Woche nach dem ehemaligen Innenminister Horst Seehofer die zweite seinerzeit politisch Verantwortliche, die als Zeugin aussagen musste.

Moralische Verantwortung für Ortskräfte

Vor allem bei der Evakuierung afghanischer Ortskräfte, die Deutschland im militärischen, zivilen und entwicklungspolitischen Bereich unterstützt haben, hätte sich Kramp-Karrenbauer mehr Flexibilität gewünscht. Man habe gegenüber diesen Menschen eine moralische Verantwortung, betonte die Politikerin der konservativen CDU. Ähnlich hatte sie sich schon während ihrer Amtszeit im April 2021 geäußert – vier Monate vor dem Fall Kabuls.

Annegret Kramp-Karrenbauer über ihr Engagement für Afghanistan: "Es war ein echtes Herzensanliegen"Bild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Ihr früherer Kabinettskollege Seehofer von der bayrischen CDU-Schwesterpartei CSU hat im Untersuchungsausschuss einen anderen Akzent gesetzt: Sein Ministerium habe immer die Erfahrungen der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 vor Augen gehabt. Damals waren innerhalb weniger Monate rund eine Million Menschen vor allem aus den Bürgerkriegsländern Syrien und Afghanistan nach Deutschland gekommen.

Verständnis für Horst Seehofer

Der für die innere Sicherheit zuständige Seehofer befürchtete offenbar, bei der Evakuierung von Ortskräften die Kontrolle zu verlieren. Seine größte Sorge: Es könnten potenzielle Terroristen darunter sein. Dafür äußerte Kramp-Karrenbauer im Rückblick Verständnis: Es sei die Aufgabe des Innenministers gewesen, "dass keine Gefährder ins Land kommen".

Zugleich erinnerte die frühere Verteidigungsministerin daran, dass sich Deutschland 2021 mitten im Wahlkampf befand. Ende September, also sechs Wochen nach dem Triumph der Taliban, wurde ein neuer Bundestag gewählt. "Und die Frage von Migration und Aufnahme von Flüchtlingen ist sehr zugespitzt diskutiert worden", betonte Kramp-Karrenbauer. 

Die Furcht afghanischer Ortskräfte

02:37

This browser does not support the video element.

Machtwort von Angela Merkel

Letztlich habe Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Juni 2021 entschieden, den Kreis der zu evakuierenden Menschen zu erweitern. Sie sei froh, dass inzwischen ein hoher Anteil der früheren Bundeswehr-Ortskräfte mit ihren Familien Afghanistan habe verlassen können, sagte Kramp-Karrenbauer. Wäre es allerdings nach ihr gegangen, hätte die Gruppe der Aufnahmeberechtigten früher erweitert werden sollen. "Ich hätte mir gewünscht, dass wir in manchen Punkten schneller gewesen wären."

Immer wieder würdigte die Ex-Verteidigungsministerin das lebensgefährliche Engagement der Bundeswehr im Rahmen der Evakuierung, aber auch während des gesamten Afghanistan-Einsatzes seit 2001. Auslöser waren die islamistischen Terroraschläge vom 11. September in den USA gewesen. In keinem anderen Ressort sei der emotionale Bezug zu Afghanistan so groß gewesen wie im Verteidigungsministerium, sagte Kramp-Karrenbauer. "Es war ein echtes Herzensanliegen, auch für mich persönlich."

Hauptziel: die Truppe sicher nach Hause bringen

Bei ihrem Amtsantritt 2019 habe sie es sich zur Aufgabe gemacht, Entscheidungen der Bundesregierung und des Parlaments über den Afghanistan-Einsatz voranzubringen, sagte die 62-Jährige. Dazu gehörten Evakuierungspläne für die Zeit nach dem Bundeswehrabzug. Man sei auch gut vorbereitet gewesen. Hauptziel: "Unsere Soldatinnen und Soldaten sicher nach Hause zu bringen."

Gedenkakt für Afghanistan-Einsatz

02:41

This browser does not support the video element.

Als sich die Ereignisse trotz anders lautender Einschätzungen des Bundesnachrichtendienstes (BND) Mitte August 2021 überstürzten, musste alles sehr schnell gehen. Das galt auch für andere Länder, die sich 20 Jahre lang am militärischen und humanitären Einsatz in Afghanistan beteiligt hatten. Um eigene Leute und Ortskräfte auszufliegen, musste viel improvisiert werden. "Das war keine klassische Evakuierungsmission", sagte Kramp-Karrenbauer. Aus der Not heraus sei es eine internationale Luftbrücke geworden.

Auch Olaf Scholz nimmt früheren Innenminister in Schutz

Zu später Stunde wurde auch noch Bundeskanzler Olaf Scholz als Zeuge im Untersuchungsausschuss befragt. Er war zum Zeitpunkt des Afghanistan-Desasters Finanzminister gewesen. Wie schon Kramp-Karrenbauer nahm der Sozialdemokrat (SPD) den damaligen Innenminister Seehofer in Schutz: Dessen Beharren auf einem geregelten Verfahren für die Ortskräfte sei sicherheitspolitisch motiviert gewesen, nicht innenpolitisch. Das Ergebnis des Ortskräfteverfahrens bezeichnete Scholz dennoch als "nicht zufriedenstellend".

Wie die damalige Regierungschefin Merkel die gescheiterte Afghanistan-Mission erlebt hat, soll sie dem Untersuchungsausschuss in der letzten öffentlichen Sitzung des Gremiums am 5. Dezember schildern. Vorher sind noch Ex-Außenminister Heiko Maas (SPD) und der frühere Entwicklungsminister Gerd Müller als Zeugen geladen. Der Abschlussbericht muss spätestens im Februar 2025 vorliegen, bevor nach dem Bruch der Regierungskoalition die vorgezogene Bundestagswahl stattfindet.  

 

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland