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Afghanistan: Die Türkei mittendrin

Daniel Heinrich
31. August 2021

Die USA sind aus Afghanistan abgezogen. Insbesondere die Türkei schickt sich an, deren Rolle vor Ort einzunehmen - auch aus Eigeninteresse. Viele Türken kritisieren jedoch die Avancen des Präsidenten an die Taliban.

Türkei Präsident Recep Tayyip Erdogan
Bild: Aytac Unal/AA/picture alliance

Die Zahlen der Vereinten Nationen (UN) lassen keine Beschönigungen zu, die Lage in Afghanistan ist dramatisch. Nach Schätzungen der Expertinnen und Experten bei der UN benötigen mehr als 18 Millionen Menschen in Afghanistan Hilfe, das ist mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung. Eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der dringendsten Probleme kommt dem internationalen Flughafen Hamid Karsai in der Hauptstadt Kabul zu. Nach Abzug aller internationalen Truppen ist er nicht mehr in Betrieb. Dass der Flughafen wieder funktioniert, ist allerdings Voraussetzung dafür, dringend benötigte Güter schnell ins Land bringen zu können. Und damit rückt die Türkei in den Fokus der internationalen Diplomatie.

Ankara war seit Beginn des Einsatzes der internationalen Schutztruppe in Afghanistan präsent, zeitweise mit rund 2000 Soldaten. Vom Juni 2002 bis Februar 2003 und noch einmal vom Februar 2005 bis August 2005 lag sogar die komplette Mission mit 43 Staaten in der Verantwortung türkischer Kommandeure. Zentrales Element des türkischen Auftrags war die Absicherung des Airports. Schon am Rande des NATO-Gipfels im Juni hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit seinem US-amerikanischen Amtskollegen Joe Biden die militärische Unterstützung Ankaras besprochen. Schon damals wurde kolportiert, dass das türkische Militär nach Abzug der Amerikaner die Sicherung des Flughafens übernehmen solle.

Derzeit sichern afghanische Spezialeinheiten den Flughafen in Kabul. Nicht mehr als eine ZwischenlösungBild: Wakil Kohsar/AFP/Getty Images

Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Taliban in diesen Tagen mit Vertretern der Türkei und Katars Gespräche über die Wiederinstandsetzung des Flughafens führen. Die Absichten der türkischen Regierung scheinen sich jedoch nicht nur auf die Absicherung des Flughafens zu beschränken. "Bevor die Taliban Kabul überrannten, hatte Ankara noch geglaubt, eine neue Rolle in Afghanistan definieren zu können", so Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Dies habe im Einklang mit der sich immer eigenständiger entwickelnden Außenpolitik Ankaras gestanden. Dass die Türkei versucht, am Beispiel Afghanistans ihr außenpolitisches Profil zu schärfen, sei auch durch den Versuch deutlich geworden, Istanbul im Frühjahr 2021 zum Ort für Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung zu machen, so der Türkei-Experte. Diese platzten jedoch, weil die Taliban ihr Kommen absagten.

Anerkennung in der NATO

Dennoch: Dass die Türkei in der Region auch in Zukunft eine immer größere Rolle spielen könnte, wird international nicht nur von den USA anerkannt. Der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) hatte deswegen erst am vergangenen Wochenende seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu einen Besuch abgestattet, NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg spricht der Türkei in dem Konflikt gar eine "Schlüsselrolle" zu.

Außenminister Heiko Maas am Wochenende im Gespräch mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt CavusogluBild: Michael Fischer/dpa/picture alliance

Das türkische Engagement stößt auch deswegen auf Zustimmung, weil die Türkei in den Augen vieler westlicher Beobachter als mehrheitlich muslimisches Land eine Sonderrolle in Gesprächen mit den Taliban einnehmen könne. Dass diese These jedoch mit Vorsicht zu genießen ist, zeigt schon die Diskussion um widersprüchliche Aussagen des Taliban-Sprechers Suheyl Shaheen. Erst vor wenigen Wochen hatte er im Gespräch mit der BBC deutlich gemacht, dass sich "alle ausländischen Streitkräfte, Auftragnehmer, Berater, Trainer aus dem Land zurückziehen" sollten. Ende August ruderte er dann im türkischen Fernsehen zurück. Gegenüber dem Sender Ahaber betonte er, dass man sich ein gutes Auskommen mit der Türkei wünsche. Die Länder seien doch "Brüder im Glauben." Der türkische Präsident griff das Argument gerne auf und spielte ebenfalls die religiöse Karte. Es bestünde kein Widerspruch zwischen dem Glauben der Taliban und dem der Türkei, es gebe in der Türkei "nichts, was ihrem Glauben widerspreche", so Recep Tayyip Erdogan.

"Du bist der Talib"

Viele Türkinnen und Türken wollten das allerdings in keinem Fall so stehen lassen. Vor allem in den Sozialen Medien machen sie ihrem Ärger Luft. Die Aussagen des Taliban-Sprechers konterten sie mit dem Hashtag #TalibanKardesimDegildir ("Die Taliban sind nicht mein Bruder") und auch Präsident Erdogan bekam auf Twitter sein Fett weg. Unter dem Hashtag #SensinTaliban ("Du bist der Talib") kam es zu einem regelrechten Shitstorm. Die eindeutige Botschaft: Der Präsident irrt, beim Thema Religion bestehen keine Gemeinsamkeiten zwischen der Türkei und den Taliban. Einen der meistgeteilten Tweets verfasste der bekannte Schauspieler, Filmregisseur und Autor İlyas Salman. Bezogen auf die Stimmung im Land, so Salman, brauche man sich nichts vormachen. Abgesehen von einem "sehr kleinen und radikalen Prozentsatz" würden auch Anhänger des Präsidenten ein Leben wie in Afghanistan nicht wollen.

Trotz des teils heftigen innenpolitischen Protests scheint man in türkischen Regierungskreisen fest gewillt, solide Beziehungen zu den neuen Machthabern in Afghanistan aufbauen zu wollen. Das liegt zum einen daran, dass man in Ankara eine massenhafte Migration aus Afghanistan in Richtung Türkei und weiter in die EU befürchtet, sollte sich die Lage am Hindukusch nicht stabilisieren. Aus Angst vor den erwarteten Flüchtlingen aus Afghanistan hatte die türkische Regierung in den vergangenen Tagen bereits den Bau einer Grenzmauer zum Iran vorangetrieben. Kristian Brakel macht jedoch noch einen anderen Beweggrund aus. Er vermutet, dass Ankara eine Vermittler-Position zwischen dem Westen und Afghanistan anstrebt, um die "zuletzt sehr angeschlagene außenpolitische Reputation der Türkei in Washington und Brüssel" wieder aufzupolieren.

Flüchtlingsroute: Von Afghanistan in den Iran und dann in Richtung Türkei

In der Tat ist das Verhältnis Ankaras zu vielen NATO-Partnern derzeit mehr als angespannt. In einigen Hauptstädten des Verteidigungsbündnisses ist man mehr als irritiert darüber, dass die Türkei ihren Luftraum seit dem vergangenen Winter mit dem russischen Raketenabwehrsystem S-400 schützen will. Als Reaktion auf die Entscheidung Ankaras, hatte man in Washington sogar beschlossen die Türkei vom Programm für das Tarnkappen-Kampfjet F-35 auszuschließen. Hinzu kommt, dass die Beziehungen auch durch die Diskussion über das türkische Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs belastet werden. Joe Biden hatte die Gräueltaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Frühjahr dieses Jahres als Völkermord eingestuft und damit einen Proteststurm in Ankara ausgelöst.

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