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Politik

EU und NATO in Schockstarre

Barbara Wesel
16. August 2021

Nach der Rückeroberung Afghanistans durch die Taliban hüllen sich NATO und EU weitgehend in Schweigen. Es sind die nationalen Regierungen, die sich derzeit äußern - und die Entscheidungen treffen.

Das NATO-Hauptquartier in Brüssel
Das NATO-Hauptquartier in BrüsselBild: Zhang Cheng/Xinhua/picture alliance

Den diplomatischen Dienst der EU haben der Vormarsch der Taliban und der schnelle Zusammenbruch der afghanischen Regierung offenbar unvorbereitet getroffen. Am vergangenen Donnerstag schrieb Chefdiplomat Josep Borrell noch, die Taliban sollten an den Verhandlungstisch in Doha zurückkehren, einem Waffenstillstand zustimmen und eine Regierung unter Einbeziehung aller Kräfte im Land anstreben. Zwei Tage vor dem Fall von Kabul erscheint das als Zeichen der Ahnungslosigkeit. 

Am Montagmorgen folgte dann die Bitte, den gesicherten und geordneten Abzug aller Ausländer und der Afghanen zu garantieren, die das Land verlassen wollen. Unterzeichnet ist sie von Vertretern der EU und Teilen der internationalen Staatengemeinschaft. Chaotische Szenen am Flughafen von Kabul allerdings zeigten, dass nur noch die militärische Evakuierung möglich ist; der zivile Flugverkehr ist eingestellt. Für Dienstagnachmittag wurde ein Sondertreffen der EU-Außenminister einberufen.

Klagen und Warnungen aus dem Europaparlament

Der Präsident des Europaparlamentes fordert eine gemeinsame Reaktion der EU. Wer verfolgt werde, dem müsse Asyl gewährt werden, so David Sassoli. Afghanistan brauche eine dauerhafte politische Lösung, die die Rechte der Frauen schütze und den Afghanen erlaube, in Sicherheit und Würde zu leben. Auch diese Erklärung erscheint merkwürdig verspätet.

EU-Parlamentspräsident David Sassoli (Archivbild)Bild: Yves Herman/AFP/Getty Images

Die außenpolitischen Sprecher der EVP-Fraktion mahnen an, schnell weitere Menschen in Sicherheit zu bringen. "Neben den afghanischen Ortskräften der Bundeswehr haben beispielsweise auch Lehrerinnen, Ärztinnen, Bürgermeisterinnen und Frauenrechtlerinnen die Fackel von Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschenrechten in Afghanistan hochgehalten", schreiben Daniel Caspary und David McAllister. Außerdem müsse die EU in der Region verstärkt humanitäre Hilfe leisten, um eine große Flüchtlingsbewegung nach Europa zu vermeiden: "Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass die Flüchtenden heimatnah Schutz bekommen." 

Die Grünen fordern, die EU müsse jetzt wenigstens die rund 600 Ortskräfte bei der EU-Polizeimission EUPOL, der EU-Delegation in Kabul und der Hilfsmission ECHO samt Familien retten. "Europa muss seiner Verantwortung für die Ortskräfte der EU-Missionen gerecht werden. Statt schnell zu handeln, streiten sich die EU-Kommission und nationale Regierungen über Zuständigkeiten", klagt der Grünen-Sprecher und Europaabgeordnete Sven Giegold. Man brauche eine Luftbrücke für das bisherige EU-Personal.

Der Sprecher der Liberalen im Europaparlamentes fordert einen Sondergipfel der EU-Regierungen und ein Treffen des Parlamentes. Der Abstieg Afghanistans in die Dunkelheit müsse dringend diskutiert werden, erklärt Dacian Ciolos, um eine einheitliche humanitäre und diplomatische Antwort zu finden.

Reaktionen der NATO-Partner

In mehreren europäischen NATO-Ländern fanden Treffen der Sicherheitskomitees statt, so etwa in Großbritannien, Belgien und Frankreich. Das Hauptquartier des Militärbündnisses in Brüssel dagegen schweigt.

Am Montag kündigte der britische Verteidigungsminister Ben Wallace eine Beschleunigung der Verfahren für zivile Mitarbeiter an: "Wo die Regeln gelockert werden müssen, werden sie gelockert". Geplant sei die Evakuierung von 1200 bis 1500 Menschen pro Tag, solange der Flughafen von Kabul noch unter westlicher Kontrolle stehe. Als Enddatum wird der 31. August genannt. 

"Manche werden es nicht schaffen", räumte Wallace ein. Das sei traurig aber "der Westen hat getan, was er getan hat" - jetzt müssten alle noch ihr Bestes geben, um  ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Nur Afghanen, die es bis Kabul schaffen, hätten derzeit noch eine Chance, ausgeflogen zu werden.

In Berlin erklärte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes, es sei unklar wie lange die Evakuierung Kabuls noch fortgesetzt werden könne. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach nach Berichten in einer CDU-Präsidiumssitzung von "bitteren Stunden". Die Regierung habe schon vor Monaten rund 2500 Ortskräfte in Afghanistan identifiziert, hinzu kämen rund 2000 Menschenrechtler und Anwälte plus Familien, insgesamt rund 10.000 Afghanen, die ausgeflogen werden müssten.

Bundeskanzlerin Angela MerkelBild: Christian Mang/Pool via AP/picture alliance

Deutschland evakuiere jetzt in Zusammenarbeit mit den USA. "Ohne die Hilfe der USA könnten wir so einen Einsatz nicht machen", erklärte Merkel. Für Frauen und viele, die auf Fortschritt und Freiheit gesetzt hätten, seien es "bittere Ereignisse". Bei dem schnellen Rückzug aus Afghanistan aber sei die Bundeswehr von den USA abhängig gewesen, kritisiert die Kanzlerin durch die Blume. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer fügte hinzu, man wolle so lange wie möglich evakuieren, wobei Spezialkräfte und Fallschirmjäger in Kabul einen gefährlichen Einsatz leisteten. Soldaten aus früheren Afghanistaneinsätzen seien "erschüttert, über das, was passiert", so die Ministerin.

Regierungssprecher Steffen Seibert erklärte, vor dem Hintergrund der jahrelangen Einsätze des Westens in Afghanistan sehe man "bittere Entwicklungen". Nach Medienberichten soll das Auswärtige Amt Mahnungen zur Beschleunigung der Ausreisen in den Lageberichten der Botschaft in Kabul keine Beachtung geschenkt haben. CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet erklärte, die Entwicklung in Afghanistan sei "das größte Fiasko seit der Gründung der NATO".

Sondersitzung in Paris

Zahlreiche europäische Länder, darunter Schweden, Tschechien, die Niederlande und Italien, haben inzwischen ihr diplomatisches Personal und eine kleinere Zahl von Hilfskräften ausgeflogen. In Paris fand eine Sondersitzung des nationalen Verteidigungsrates statt, Präsident Emmanuel Macron kündigt in einer Fernsehansprache an, bedrohte Mitglieder der afghanischen Zivilgesellschaft aufzunehmen. In Gefahr seien gegenwärtig "Verteidiger der Menschenrechte, Künstler, Journalisten". "Wir werden sie willkommen heißen, denn es ist eine Ehre für Frankreich, an der Seite derjenigen zu stehen, die für die Freiheit kämpfen", erklärte Macron. 

Die französische Regierung fürchtet ebenso wie Teile der EU eine neue Flüchtlingskrise, falls Millionen von Afghanen sich auf den Weg in Richtung Europa machen würden. Der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis erkärte, sein Land werde nicht als "Einfallstor für eine neue Flüchtlingswelle" dienen.

 

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