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Politik

"Taliban wollen nicht weiter kämpfen"

Hans Spross
19. August 2018

Taliban fordern die Regierung in Kabul mit Überfällen und Anschlägen heraus. Allerdings scheinen auch sie die Kämpfe leid zu sein. Afghanistan-Experte Thomas Ruttig sieht Spielraum für positive Verhandlungen.

Taliban Afghanistan
Taliban-Kämpfer während der Waffenruhe im Fastenmonat Ramadan Mitte JuniBild: Reuters/Parwiz

DW: Im Oktober sollen in Afghanistan Parlamentswahlen stattfinden. Unterdessen erhöhen Taliban und der IS-Ableger in Afghanistan durch Militärangriffe und Anschläge den Druck auf die Regierung. Inwieweit ist der demokratische Wiederaufbau Afghanistans unter diesen Umständen möglich?

Thomas Ruttig: Der demokratische Prozess in Afghanistan befindet sich schon seit geraumer Zeit im Rückwärtsgang. Das hat nur zum Teil mit den Taliban zu tun. Man muss damit rechnen, dass die Taliban Wahleinrichtungen, und wahrscheinlich auch am Wahltag, angreifen werden. Es hat solche Vorfälle schon gegeben. Außerdem haben wir es auch mit dem örtlichen Ableger des "Islamischen Staates" zu tun, der in dieselbe Richtung agiert. Aber der wichtigste Punkt ist, dass ein Großteil der afghanischen Eliten trotz ihrer Lippenbekenntnisse nicht wirklich an Demokratie glaubt, und dass die demokratischen Institutionen, die in der Verfassung stehen, zum großen Teil nur Fassaden-Charakter haben und zum Teil aktiv von diesen Eliten untergraben und ausgehöhlt werden.

Das Problem liegt noch tiefer: Man hat sich von Anfang an auf die Bekämpfung der Taliban konzentriert, die am Anfang besiegt und nicht sehr stark waren, und hat dazu die Warlords - also auch die Kriegsverbrecher und Menschenrechtsverletzer der vorhergehenden Epochen des Krieges - politisch als Verbündete mobilisiert und musste sie natürlich auch in den Institutionen unterbringen. Diese Leute sind bewaffnet, sie sind für ihre Vergehen der Vergangenheit nie belangt worden, sie haben sich selbst eine Amnestie im Parlament gegeben, die die internationale Gemeinschaft nie verurteilt hat. Und von dieser Machtposition aus kontrollieren sie die dem Namen nach demokratischen Institutionen. Also Nicht-Demokraten kontrollieren die demokratischen Institutionen; unter solchen Bedingungen ist Demokratie nicht möglich.

Afghanistan-Experte Ruttig: Können die Vorstellungen der Taliban und der Afghanen in Übereinstimmung gebracht werden? Bild: picture-alliance/dpa

Dennoch sollen die existierenden zivilen Institutionen in Afghanistan möglichst gestärkt werden. Was sagt der jüngste Angriff der Taliban auf die Stadt Ghasni über deren Stärke aus?

Die Taliban sind im Grunde so stark wie nie zuvor. Sie beherrschen weit mehr Territorium und Bevölkerung, als sie das seit ihrem Sturz 2001 je getan haben. Der Angriff auf Ghasni war nicht der erste auf eine Großstadt in Afghanistan in diesem Jahr und in den vergangenen Jahren. Wir erinnern uns an Kundus 2015, wir erinnern uns weniger daran, dass 2016 so etwas ähnliches in Kundus passiert ist wie jetzt in Ghasni. Die Taliban gehen rein, beherrschen die Stadt für ein paar Tage und gehen dann wieder raus. Das zeigt, dass sie immer noch die Initiative haben und die afghanischen Streitkräfte, trotz aller Investitionen in Ausbildung, aber auch in Finanzen, nicht in der Lage sind die Initiative zu übernehmen und im Grunde falsch aufgestellt und immer noch zu schwach sind. Zu schwach in allen Belangen außer zahlenmäßig, denn es handelt sich um über 350.000 Mann.

USA in Afghanistan: Feinde und Gesprächspartner zugleich Bild: Reuters/O. Sobhani

Soweit die militärische Stärke. Was ist mit der diplomatischen Stärke der Taliban? Zeichnet sich eine Lösung über Verhandlungen ab?

Der Angriff auf die Stadt Ghasni - und die Taliban haben das auch offiziell so verlautbaren lassen - war eine Machtdemonstration. Sie haben gestern erklärt, dieser Angriff sei davon motiviert gewesen, dass die Amerikaner gesagt haben, dass sie den Taliban vor Verhandlungen militärische Schläge versetzen wollen. Jetzt haben die Taliban zugeschlagen. Das ist schon eine ziemliche Pleite, sowohl für die Amerikaner als auch natürlich für die afghanische Regierung. Es heißt aber trotzdem nicht - so zynisch das klingen mag, besonders für die Leute, die von diesen Kämpfen betroffen sind - dass es keine Verhandlungen geben kann und wird.

Es sind die üblichen Demonstrationen der Stärke vor Verhandlungen. Wir haben zwei Runden von Vorgesprächen gehabt, in Katar und in Usbekistan. Es ist angekündigt worden, dass die Amerikaner und die Taliban sich in einem Monat nochmal in Usbekistan treffen wollen. Das scheint etwas in Gang zu sein. Das Problem vor allem für die afghanische Regierung ist, dass sie bisher außen vor bleibt und das Ganze nicht sehr wohlwollend sieht. Die Amerikaner haben allerdings wiederholt öffentlich erklärt, dass eines der Ziele dieser Gespräche ist, dass auch ab einem bestimmten Punkt die afghanische Regierung daran beteiligt sein muss. Und sie muss da mit herein, weil sie natürlich auch Partei des Konflikts ist. Die Taliban lehnen das bisher ab. Sie sagen, sie wollen mit den Amerikanern sprechen, um einen Fahrplan für den Truppenrückzug festzulegen, und wenn das geschehen sei, dann wären sie auch bereit, mit der afghanischen Regierung zu reden. Ich finde, das ist kein schlechter Fahrplan, wenn man sieht, welches Ausmaß das Blutvergießen in Afghanistan angenommen hat.

Wut über sinnlose Gewalt des "IS" gegen Schülerinnen und Schüler Bild: picture-alliance/AP/R. Gul

Wie bewerten Sie - angesichts der jüngsten Intensivierung der Kämpfe und Überfälle - die Verbrüderungsszenen zwischen unbewaffneten Taliban-Kämpfern und Regierungskräften anlässlich der Waffenruhe zum Ramadan-Ende im Juni?

Auch mit Zivilisten gab es solche Szenen, und zwar ziemlich verbreitet in Afghanistan. Alle Seiten waren überrascht, auch die afghanische Regierung war positiv überrascht. Man darf solche Dinge natürlich nicht überbewerten. Andererseits sind solche symbolischen Handlungen wie ein kurzer Waffenstillstand auch unheimlich wichtig. Sie haben den Afghanen - und zwar den Afghanen auf allen Seiten - gezeigt, dass die Leute Frieden wollen, Und die Leute haben zum ersten Mal - wenn auch nur für ein paar Tage - gesehen, wie Afghanistan unter friedlichen Bedingungen aussehen könnte. Das hat Hoffnungen geweckt.

Man kann jetzt nicht erwarten, dass so etwas gleich in den totalen Frieden umschlägt, da muss noch sehr viel Kleinarbeit in Verhandlungen geleistet werden. Aber es zeigt auch, dass auch die Taliban-Kämpfer letztendlich die Nase voll haben und nicht weiter kämpfen wollen. Aber sie haben natürlich auch bei ihren Auftritten in den Städten immer wieder gesagt: Unser Problem sind die Amerikaner. Wir wollen, dass die rausgehen. Sie sind nicht gekommen und haben gesagt: Wir haben keine Lust mehr zu kämpfen. Aber sie haben gesagt: Unter bestimmten Bedingungen sind wir bereit, den Kampf einzustellen. Und das ist positiv. Und trotz all dieser Gewalt gerade in den letzten Tagen und den Kämpfe muss man sagen, dass das der einzige mögliche gangbare Weg ist.

Taliban könnten sich mit Mädchenbildung anfreunden - und mit mehr? Bild: picture-alliance/dpa/V. Melnikov

Wie müsste man sich eine zukünftige Regelung in Afghanistan mit wesentlicher Taliban-Beteiligung vorzustellen? Ist dann zum Beispiel davon auszugehen, dass Errungenschaften wie Mädchen- und Frauenbildung weiterhin bestehen könnten?

Das wird natürlich ein harter Kampf, diese Errungenschaften beizubehalten. Deswegen braucht die afghanische Regierung auch moralisch eine starke Position.  Wir ja haben am Anfang über die Kriegsverbrecher gesprochen, die sich in ihren Reihen befinden. Und die sind nicht in einer Position, den Taliban zu sagen: Dies und jenes geht nicht. Auch auf Regierungsseite gibt es viele Leute, die Mädchenbildung oder Frauen in den Medien völlig ablehnen. Das wird ein harter Kampf, und es ist nicht ganz klar, ob man sich da auf die afghanische Regierung verlassen kann.

Auf der anderen Seite haben die Taliban ihre Politik seit ihrer Machtausübung modifiziert. Es gibt Stimmen unter ihnen, die sagen: Ja, auch Mädchen sollen in die Schule gehen. Aber die Taliban haben natürlich immer noch Bedingungen in der Praxis, die mit unseren Vorstellungen nicht übereinstimmen. Es gilt jetzt herauszufinden, ob die mit den Vorstellungen der meisten Afghanen übereinstimmen können, wenn zum Beispiel gesagt wird, dass die Mädchen nur bis zur sechsten Klasse in die Schule gehen sollen. Man muss dann Möglichkeiten finden, auch mit den Taliban, dass Mädchen auch höhere Bildung in Anspruch nehmen können. Wir wissen, dass auch Taliban-Führer Töchter im Ausland haben und diese Töchter sehr wohl zur Universität schicken.

Demokratie unter Druck von innen und außen Bild: picture-alliance/Xinhua/S. Mominzadah

Bildungseinrichtungen werden vor allem vom IS-Ableger in Afghanistan ins Visier genommen, mit möglichst vielen Opfern, wie gestern in einem Schiiten-Viertel in Kabul. Ist der IS inzwischen eine größere Bedrohung für Afghanistan, als die Taliban es sind?

Nein, die Bedrohung durch den IS ist bei weitem nicht so groß wie durch die Taliban. Überproportional tritt der IS mit Terrorangriffen in Erscheinung, wie gestern auf das Bildungszentrum in Kabul. Aber auf dem eigentlichen Schlachtfeld, wo sich der Konflikt, wenn er sich militärisch entscheidet, entscheiden würde, ist der IS nur eine absolute Randgruppe. Was zählt, sind die Taliban, und die sehen den IS auch nicht positiv, sondern sie bekämpfen ihn aktiv und sehr brutal in den Gebieten, wo er auftaucht. Im Mai gab es eine große Taliban-Offensive in einer Provinz im Nordwesten des Landes, wo die einzige IS-Gruppe, die nicht nahe der pakistanischen Grenze operiert, aktiv war. Die Taliban haben diese Gruppe praktisch völlig beseitigt.

Der IS-Ableger in Afghanistan versucht dort, wie in Syrien und im Irak, eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Schiiten und Sunniten zu provozieren. Das ist ihm zum Glück bisher nicht gelungen, denn der IS hat keine Basis im Land. Bei allen tendenziellen Spannungen, die es in Afghanistan manchmal zwischen Schiiten und Sunniten gibt, die aber eher theoretischer Natur sind, als dass zu den Waffen gegriffen würde. Und trotz des schrecklichen Anschlags mit über 30 Toten auf die Mädchen und Jungen, die sich in Kabul auf die Universitätseintrittsprüfung vorbereitet haben, darf man nicht vergessen: Die meisten zivilen Opfer in Afghanistan werden immer noch von den Taliban verursacht, wenn auch nicht (mehr) durch solche direkten Anschläge auf zivile Ziele.

Thomas Ruttig ist Kodirektor des Afghanistan Analysts Network (AAN)

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