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PolitikAsien

Fatima Gailani kämpft für Frieden mit den Taliban

10. Oktober 2020

Es geht um die Erfüllung eines Traums - und um eine Zerreißprobe für Afghanistan: Fatima Gailani ist in Katars Hauptstadt Doha gereist, um Frieden mit den Taliban zu schließen.

Afghanistan Fatima Gailani
Bild: Najia Anwari

Noch sitzt Fatima Gailani dem Feind nur beim Essen gegenüber. Denn noch verhandelt in Doha nur ein sehr kleiner Kreis verbissen über die Regeln, die später für alle Delegierten gelten sollen. Das geht jetzt schon fast einen Monat so. Diejenigen, die nicht zu den wenigen Auserwählten gehören, müssen sich im feudalen Konferenzhotel, das die historischen Friedensgespräche beherbergt, bereithalten und abwarten. Das führt zwangsläufig zu Begegnungen.     

"Beim Abendessen haben wir lange, lange Gespräche geführt", erzählt Fatima Gailani. "Und wenn wir uns zufällig in den Korridoren treffen, halten wir immer an und erkundigen uns nach der Gesundheit des anderen. Ich war sehr schwer erkrankt, deshalb begegnen mir die meisten mit viel Sympathie und freuen sich, dass es mir wieder besser geht und ich teilnehmen kann."

42 Jahre Krieg in Afghanistan

Sie, damit meint Fatima Gailani die Taliban. Den Gegner. Ein Wort, das sie selbst nicht in den Mund nimmt. "Ganz ehrlich: Ich habe hier noch keine einzige Reaktion erlebt, die mir nicht gefallen hat. Natürlich werden wir Meinungsverschiedenheiten haben, wenn unsere Verhandlungen richtig losgehen. Aber ich hoffe, dass wir unsere Differenzen klären können, denn die hässliche Option zum Frieden ist Krieg." 

Gailani gehört zum Verhandlungsteam der Islamischen Republik Afghanistan und repräsentiert den Staat, der nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch internationale Hilfe entstanden ist. "Für mich fühlt es sich so an, als ob ein Traum in Erfüllung geht", berichtet Fatima Gailani der DW per Whatsapp-Anruf aus Katars Hauptstadt Doha. "Ich kämpfe seit 42 Jahren dafür, dass in meinem Land eines Tages Frieden herrscht."

In Doha verhandeln insgesamt 42 Personen. 21 auf jeder Seite - für jedes Kriegsjahr ein Delegierter.

Frontfrau in Doha   

Fatima Gailani stammt aus einer einflussreichen, religiösen Familie mit Verbindungen zum ehemaligen Königshaus. Sie war 24 Jahre alt, als Afghanistan Ende der 1970er Jahre im Chaos versank. Damals entbrannte in Kabul ein Konflikt um kommunistische und islamistische Ideale, der 1979 im Einmarsch der Sowjetunion gipfelte. Es folgte ein Gewaltexplosion in fünf Kapiteln, die bis heute anhält:

  • der Krieg der islamischen Mudschahedin gegen die Rote Armee - unterstützt vor allem von den USA, Pakistan und Saudi-Arabien
  • der Bruderkampf der Mudschahedin um die Verteilung der Macht, nachdem die gedemütigten sowjetischen Truppen im Frühjahr 1989 abgezogen waren
  • der rasante Aufstieg der Taliban, die 1996 ein Islamisches Emirat errichteten und Frauen aus der Öffentlichkeit verbannten
  • der Sturz des Taliban-Regimes durch die USA und ihre Verbündeten nach den Anschlägen vom 11. September
  • der Kampf der Taliban gegen die westliche Intervention, durch die in Afghanistan eine Islamische Republik mit einer demokratischen Verfassung entstanden ist
Die US-geführte Intervention in Afghanistan hat dem Land keinen Frieden gebracht Bild: picture-alliance/dpa/P. Endig

Fatima Gailani ist darüber 66 Jahre alt geworden. Sie ist an Krebs erkrankt und nach drei schweren Operationen aus dem Ruhestand zurückgekehrt, um in Doha dabei zu sein. Als eine von nur vier Frauen. Ist sie eine Feministin? "Wenn jemand, der sich für die Zukunft der Frauen einsetzt, eine Feministin ist, dann bin ich wohl eine. Aber ich kümmere mich mit der gleichen Leidenschaft um andere Themen. Ich kämpfe gegen alles, was in meinem Land falsch läuft."

Gailani hat persische Literatur, Islamwissenschaften und Islamisches Recht studiert. Sie wuchs im Frieden unter dem pro-westlichen König Zahir Schah auf, der Afghanistan in den 1960er Jahren öffnete. Frauen durften wählen und erhielten das Recht auf Bildung. "Aber wir haben alles verloren, nicht wahr?", fragt sie leise, ohne eine Antwort zu erwarten. "Die meisten unserer Jugendlichen kennen keinen Frieden. Genau deshalb bewege ich mich hier sehr vorsichtig."

Denn jedes falsche Wort in Doha kann Folgen haben - auf dem afghanischen Schlachtfeld.  

Von den Mudschahedin zum roten Halbmond

Während der sowjetischen Besatzungszeit verließ Fatima Gailani ihre Heimat. In London wurde sie zum jungen, weiblichen Gesicht der afghanischen Mudschahedin. Ihr Vater war einer der Anführer des "heiligen Krieges" gegen die Rote Armee - ein Widerstandskampf, der nahtlos in einen brutalen Bürgerkrieg überging. 

Vier Frauen nehmen an den Verhandlungen mit den Taliban teil - von links nach rechts: Fawzia Koofi (ehemalige Parlamentsabgeordnete), Sharifa Zurmati (ehemaliges Mitglied der Wahlkommission), Fatima Gailani und Habiba Sorabi (ehemalige Gouverneurin von Bamyan)Bild: Najia Anwari

Im November 2001, nach dem Sturz der Taliban, war sie auf dem Petersberg bei Bonn dabei, als im Eiltempo über ein demokratisches Afghanistan verhandelt wurde. Anschließend kehrte sie nach über 20 Jahren Exil in ihre Heimat zurück, arbeitete an der neuen afghanischen Verfassung mit und wurde Präsidentin des Afghanischen Roten Halbmonds. Sie blieb es 13 Jahre lang, bis 2016. 

"Ich habe in dieser Zeit auch mit den Taliban zusammengearbeitet und war Zeugin der menschlichen Tragödie, die sich auf beiden Seiten des Konflikts abspielt. Das afghanische Elend kennt weder Namen noch Herrschaftsbereich." Nach einem Moment der Stille fügt sie an: "Keiner war wirklich ein Engel." Alle Kriegsparteien sind für den Tod von Zivilisten verantwortlich.

Waffenstillstand als oberste Priorität

Fatima Gailani erlaubt sich keine einseitigen Schuldzuweisungen: "Ich folge nur einem Leitsatz, und der gilt für ganz Afghanistan: Das [Töten] muss aufhören. Wer auch immer dafür verantwortlich ist - es muss aufhören. Ein Waffenstillstand hat für mich die oberste Priorität."

Doch noch wird in Afghanistan täglich gekämpft, gebombt und gemordet, während US- und NATO-Truppen ihren Abzug vorbereiten. Amerika will seinen längsten Krieg so schnell wie möglich beenden und hat die Bedingungen des westlichen Rückzugs mit den Taliban im Alleingang verhandelt - ohne die afghanische Regierung zu beteiligen.

"Auch bei den Verhandlungen in Bonn hat das Ausland damals nur ein paar wenige [Afghanen] ermächtigt", kritisiert Gailani. "Es wäre falsch, wenn jetzt wieder jemand von außen darüber entscheiden würde, wer das Steuer [in Afghanistan] in die Hand bekommt."  

Am 29.02.2020 unterzeichneten der US-Sondergesandte Zalmay Khalilzad und Mullah Abdul Ghani Baradar für die Taliban in Doha den Vertrag über den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan Bild: AFP/G. Cacace

Vor 19 Jahren hatten die Amerikaner noch verhindert, dass Vertreter der Taliban an der Friedenskonferenz auf dem Petersberg bei Bonn teilnahmen. Doch das Blatt hat sich gewendet. Zwar halten die USA noch immer alle Fäden in der Hand, wie diplomatische Kreise in Kabul und Doha bestätigen - aber mit dem großen Unterschied, dass die direkten Kontakte mit den Taliban inzwischen sehr intensiv sind. So intensiv, dass sich die afghanische Regierung bedroht fühlt.

Die Kernfrage ist die Rolle des Islams

Fatima Gailani warnt das Ausland davor, im komplizierten afghanischen Friedensprozess einseitig Partei zu ergreifen. Nach dem Sturz der Taliban hätten auch alle gedacht, dass "sie einfach verschwinden. Aber wie kann ein Teil eines Landes einfach verschwinden?" Umgekehrt werde das jetzt genauso wenig passieren. "Auch wir sind ein Teil dieses Landes und werden nicht einfach verschwinden", bekräftigt Gailani. "Unsere Jugend und unsere Frauen sind ein Teil dieses Landes. Wir sind da, und wir vertreten Werte."

Werte - genau darum geht es in Doha. Im Mittelpunkt steht die zukünftige Rolle des Islams in Afghanistan: Wie modern will Afghanistan sein, wie demokratisch, wie gleichberechtigt, wie islamistisch? Bleibt das Land eine Republik oder kann es nur als Gottesstaat, zum Beispiel als Islamisches Emirat, seinen Frieden finden? Diese Kernfragen sind seit Jahrzehnten ungelöst - nicht erst seit dem Aufstieg der Taliban.

Die USA - ein ehrlicher Makler?

Wie könnte eine Machtteilung mit den Taliban praktisch aussehen? Mit dieser Frage beschäftigt sich auch die Friedensforscherin Mariam Safi in Kabul. Sie wurde 1983 während der sowjetischen Besatzungszeit in der afghanischen Hauptstadt geboren. 1988 floh sie mit ihrer Familie zuerst nach Pakistan, dann weiter nach Kanada. Seit 2010 lebt die 37-Jährige wieder in Kabul, wo sie das Institut für Politikforschung und Entwicklungsstudien, kurz DROPS, gegründet hat.

"Afghanistan hat sich [durch die westliche Intervention] verändert - in Bezug auf seine Kultur, seine Traditionen - und auch die Gesellschaft insgesamt. Aber ich glaube, keiner von uns weiß, wie genau wir uns verändert haben."

Trauer und Verlust sind Alltagserfahrungen in Afghanistan: Diese Mutter verlor ihre Tochter vor zwei Jahren durch einen Selbstmordanschlag auf eine Schule Bild: Reuters/M. Ismail

Frauenrechte und Gesetze zum Schutz von Frauen sind zum Beispiel noch immer umstritten - nicht nur in den Reihen der Taliban. "Das sind Gesetze, die noch sehr, sehr viel Arbeit brauchen werden, bis sie kulturell akzeptiert sind und vor Ort umgesetzt werden können", sagt Safi.

Zwei Drittel der Bevölkerung leben in bitterer Armut, hunderttausende Männer verdienen ihr Geld als Kämpfer. Die Taliban und ihre Unterstützer halten die Verfassung für unislamisch - auch wenn dort geschrieben steht, dass kein Gesetz dem Islam widersprechen darf. "Sie haben immer wieder bekräftigt, dass sie sich bei ihren Entscheidungen über eine neue Verfassung und ein neues politisches System nur durch die islamische Scharia leiten lassen", betont die Friedensforscherin. "Und das bedeutet, dass ihre Interpretation der Scharia zurückkehren soll." 

Das gesellschaftliche Vertrauen in den demokratischen Staat ist auch auf Seiten der Taliban-Gegner erschüttert - durch wiederholte Wahlmanipulationen, durch Korruption und Machtmissbrauch, durch die fehlende Sicherheit. Afghanistan zieht weiterhin islamistische Terroristen an. Wäre das Ende des Demokratieversuchs ein zu hoher Preis für den Frieden?

Nach 42 Jahren Gewalt und Krieg hoffen die Menschen in Afghanistan auf Frieden: Dieses Foto stammt von der deutschen Fotografin Anja Niedringhaus, die am 4. April 2014 von einem afghanischen Polizisten erschossen wurde Bild: picture-alliance/AP Photo/Anja Niedringhaus

Die Rückkehr zu einem Islamischen Emirat "spiegelt aus meiner Sicht jedenfalls nicht das neue Afghanistan wider, das in den letzten 20 Jahren des internationalen Engagements entstanden ist", betont Mariam Safi. "Es würde alles bisher Erreichte kippen und mit Füßen treten. Es mögen nur wenige, limitierte Erfolge sein. Doch es gibt demokratische Errungenschaften, es gibt freiheitliche Rechte."

Es wird ehrliche und geduldige Makler brauchen, um die Maximalforderungen auf beiden Seiten des Verhandlungstisches auszubalancieren. Können die USA diese Rolle spielen, wenn sie primär den Abzug ihrer eigenen Soldaten im Sinn haben? Die afghanische Friedensforscherin formuliert es so: "Wann und wie die Vereinigten Staaten ihre Unterstützung in diesem Friedensprozess zum Ausdruck bringen, wird bestimmen, wie dieser Prozess ablaufen wird - und ob er die Bedürfnisse des afghanischen Volkes widerspiegeln wird."

Vorsicht vor roten Linien

Rund 2000 Kilometer Luftlinie von Kabul entfernt, am Verhandlungsort in Doha, wartet die Delegierte Fatima Gailani auf den Beginn der Friedensgespräche in großer Runde. Sie begreift sich nicht als Vertreterin der Regierung, sondern als Gesandte der Bevölkerung: "In den letzten 19 Jahren bin ich nie in die Regierung eingetreten. Ich habe mich bewusst für die humanitäre Arbeit entschieden, weil ich mit all diesen Machtspielen nicht hätte umgehen können."

Ist ein Frieden mit den Taliban möglich - und zu welchem Preis?Bild: Getty Images/AFP/N. Shirzada

Die Frage, mit welchen roten Linien sie in die Verhandlungen mit den Taliban geht, lässt sie unbeantwortet. "Meine einzige rote Linie ist das Scheitern der Gespräche. Das darf nicht passieren. Das darf einfach keine Option sein. Wenn es darum geht, bestimmte Werte zu verteidigen, dann machen wir das vom islamischen und vom humanitären Standpunkt."

Gailani erinnert an die gemeinsame Verantwortung - und richtet den Blick auf die Mittelmeerinseln Lesbos und Samos: "Wenn ich im Fernsehen die ganzen Berichte über die Flüchtlinge in Griechenland sehe, dann erkenne ich viele afghanische Gesichter. Es bricht mir das Herz, dass unsere jungen Männer und Frauen so viel Elend auf sich nehmen, nur weil sie ihr Heimatland als noch schlimmer empfinden."

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