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Politik

Afghanistan: Gefährliche Nachbarschaft

14. Juni 2021

Die NATO-Truppen ziehen aus Afghanistan ab. Die Interessen mächtiger Nachbarn aber bleiben. Sie lasten als schwere Hypothek auf einem zerrütteten Land, das zu zentral liegt, um ignoriert zu werden. Ein Überblick.

Afghanistan Luftbild aus einem Helikopter über Gardez, der Hauptstadt der Provinz Paktia. Im Vordergrund sieht man ein Maschinengewehr
Die NATO-Truppen ziehen ab, die Probleme bleibenBild: Getty Images/AFP/S. Marai

Über vier Jahrzehnte Krieg in Afghanistan. Kaum ein Stein blieb auf dem anderen. Was sich nicht geändert hat: Afghanistan ist weiter der Friedhof von Imperien, wie der Abzug der USA und ihrer Verbündeten nachdrücklich unterstreicht. Und nichts geändert hat sich vor allem an der absolut zentralen Lage des Landes.

Afghanistan ist ein Staat vieler Völker mit noch mehr Nachbarn - mittelbar und unmittelbar. Die könnten unterschiedlicher nicht sein: Vom Iran im Westen, den beiden miteinander verfeindeten Atommächten Pakistan und Indien im Osten; von China im Nordosten, den öl – und gasreichen Staaten Zentralasiens im Norden bis hin zum fernen Russland. Für sie alle ist das zerrüttete Land aus unterschiedlichen Gründen wichtig. Und für sie alle ändert sich das strategische Kalkül, wenn nach 20 Jahren militärischer Intervention keine westlichen Truppen mehr am Hindukusch stehen: An geostrategisch zentraler Stelle entsteht ein Machtvakuum.

Viele Nachbarn, keine Freunde: Afghanistan

Das schafft Raum für erhöhte Aktivitäten der Nachbarländer. Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network erwartet deshalb keine Beruhigung der Lage. "Die Interessen der einzelnen Länder dort sind sehr im Wiederstreit miteinander und viele tragen bilaterale oder multilaterale Konflikte oder Spannungen auf dem Feld Afghanistan aus", sagt Ruttig im DW-Gespräch.

Indisch-pakistanische Gegensätze

Besonders scharf sind am Hindukusch die Gegensätze zwischen Indien und Pakistan. Indien ist einer der Hauptverbündeten der afghanischen Regierung. Die Taliban betrachtet man in Dehli unter anderem wegen ihrer Verbindungen zu kaschmirischen Terrororganisationen wie Laschkar-e Taiba als Gefahr auch für die eigene Sicherheit.

Pakistan wiederum unterstütze trotz aller Dementis aus Islamabad weiter die Taliban als "ihre beste Karte im politischen Spiel in Afghanistan", unterstreicht Ruttig. Islamabad sehe Afghanistan als seinen Hinterhof an und versuche sehr tief hinein zu regieren. "Das führt immer wieder zu bilateralen Verstimmungen mit Kabul, was für eine Konflikt-Entschärfung nicht gerade förderlich ist". Ruttigs Fazit: "Man sollte nicht unbedingt auf den guten Willen Pakistans hoffen, was Afghanistan angeht".

"Pakistans beste Karte im afghanischen Spiel" - Premier Khan trifft sich mit Taliban-FührernBild: Pakistan Prime minister office/AFP

 Pakistan könnte noch in anderer Hinsicht wichtig werden: Als möglicher Standort für eine amerikanische Militärbasis. "Das wird in Washington intensiv debattiert", bestätigt Andrew Watkins der DW im Telefoninterview. Dabei gehe es um den Einsatz von Luftstreitkräften und nicht um die Stationierung von beträchtlichen Bodentruppen, führt der Afghanistan-Analyst der Crisis-Group aus. "Es geht um die Aufrechterhaltung der Fähigkeit, einen Drohnenkrieg zu führen oder auch Einsätze der gewöhnlichen Luftwaffe. Weil das in Pakistan innenpolitisch umstritten ist, würden sie das unter Geheimhaltung machen – wenn Islamabad dem überhaupt zustimmen würde. Die meisten von uns würden erst Jahre später davon erfahren."

Zwar erklärt die pakistanische Regierung öffentlich, ihre Stützpunkte dem US-Militär nicht zur Verfügung stellen zu wollen. Die Taliban aber haben Ende Mai Afghanistans Nachbarstaaten vorsorglich vor der Aufnahme von US-Militär gewarnt.

Ferngesteuerter Tod aus der Luft: US-Drohne vom Typ MQ1-PredatorBild: picture-alliance/dpa/L. Pratt

"Freerider" China?

Mit einem wachenden und einem weinenden Auge schaue man in Peking auf den Abzug der Amerikaner, erklärt Gu Xuewu. Gegenüber der DW erklärt der Direktor des Center for Global Studies in Bonn, einerseits freue sich China über den Rückzug der USA aus seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Andererseits habe China davon profitiert, dass die USA den Einfluss der radikalislamischen Taliban zwei Jahrzehnte lang zurückgedrängt hätten. "Die größte Angst ist Xinjiang; alles andere ist für Peking zweitrangig aus meiner Sicht", betont Gu. Die von muslimischen Uiguren bewohnten Nordwestregion Xinjiang grenzt direkt an Afghanistan.

In Afghanistan operieren auch islamistische uighurische Gruppen. Die werden in China als ernste Gefahr wahrgenommen. Vor allem seit der sogenannte Islamische Staat am Hindukusch aktiv ist, erklärt Angela Stanzel von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP: "ISIS hat China direkt gedroht mit Vergeltung aufgrund der Verfolgung der muslimischen Minderheit in China selbst". Das verstärke die Sorge Pekings vor einem Vakuum in Afghanistan, "das ISIS Platz bietet, um sich von dort aus auszubreiten und auch nach China hineinzugreifen – vor allem über Zentralasien."

Chinesische Botschaft in Kirgistan nach einem Selbstmordattentat. Die Angst vor islamistischem Terror leitet Chinas Politik auch AfghanistanBild: AP Photo/picture alliance

In der Vergangenheit war China oft als "Freerider" in Afghanistan bezeichnet worden. Peking habe seine Wirtschaftsinteressen von NATO-Truppen absichern lassen, lautete der Vorwurf. Dazu gehörten ursprünglich auch Pläne für Investitionen beispielsweise in den Abbau von Rohstoffen, über die das bitterarme Land in ebenso reichem wie ungenutztem Maße verfügt. Doch die geplante Ausbeutung zum Beispiel von Kupfer-Vorkommen in der Provinz Logar südlich von Kabul kam nicht voran - weil die Sicherheitslage eben doch nicht ausreichend war für tausende chinesische Arbeiter und Fachkräfte. Doch auch nach dem Abzug der USA werde Peking deren Rolle als Sicherheitsgarant in der Region nicht übernehmen wollen, ist SWP-Asien-Expertin Stanzel überzeugt.

Umso weniger, führt Thomas Ruttig aus, als Afghanistan in Chinas Seidenstraßen-Initiative "eher eine Nebenstraße zweiter Ordnung ist. China konzentriert sich da auf Zentralasien und direkte Wege nach Europa und südlich durch Pakistan."

Getrübte Freude in Teheran

Zwiespältig schaut man auch in Teheran auf den Rückzug der USA vom Hindukusch. Ganz oben auf der Prioritätenliste des Landes steht mit weitem Abstand der Konflikt mit den USA. Im Westen Afghanistans waren die USA mit Stützpunkten nahe an die iranische Grenze herangerückt.  "Der Iran will die Vereinigten Staaten in der Region scheitern sehen", urteilt Crisis-Group Experte Watkins. "Und der Iran möchte, dass sich die USA aus der Region zurückziehen, weil er die US-Präsenz in Afghanistan als Bedrohung ansieht. Aber was sie nicht wollen, ist das Potenzial für einen totalen Zusammenbruch oder für eine humanitäre Katastrophe." In den vergangenen Jahrzehnten haben Millionen Afghanen Zuflucht im Iran gesucht, ebenso wie in Pakistan.

Vom Krieg entwurzelt: Afghanische Flüchtlinge in einem Lager im IranBild: Getty Images/AFP/B. Mehri

"Das ist ähnlich wie mit China", fasst Thomas Ruttig die vorherrschende Haltung in Teheran zusammen: "Man ist zwar mit den USA verfeindet oder im großen geopolitischen Wettbewerb. Aber was Afghanistan betrifft, war man eigentlich ganz froh über den stabilisierenden Teil des Einflusses der westlichen Truppenpräsenz – auch wenn man das offiziell so nie gesagt hätte."

So ähnlich dürfte man das auch in Moskau sehen. Afghanistan gilt in russischen Überlegungen seit dem 19. Jahrhundert entweder als südliche strategische Flanke, als Tor zum Indischen Ozean, als Schauplatz für Rivalitäten mit dem Westen oder als alles zusammen.

Nach dem Rückzug russischer Truppen aus Afghanistan 1989 hatte sich Moskau lange aus der Region herausgehalten. Mittlerweile hat Moskau aber wieder Beziehungen zu einer Vielzahl von Akteuren in Afghanistan aufgebaut - inklusive der Taliban. 2019 wurden in Moskau innerafghanische Friedensgespräche organisiert, noch bevor die USA mit den Taliban in Verhandlungen traten. Moskaus Interesse: Sicherheit an seiner Südflanke, ein Erstarken islamistischer Bewegungen verhindern und Mitsprache bei einer politischen Konfliktlösung.

Wie sich die Bilder gleichen: Vor 32 Jahren verließen sowjetische Truppen nach jahrelangem Kampf Afghanistan - danach folgten Krieg, Chaos, TalibanBild: AP

Ein Hoffnungsträger namens TAPI

Jede Form von Konfliktlösung in Afghanistan braucht die Unterstützung der Länder der Region. Aber jedes einzelne Land, analysiert Andrew Watkins, "kann seine Finger auf die Waagschale legen und die Situation aus dem Gleichgewicht bringen". Allein beim Blick auf Indien und Pakistan scheint eine regionale Einigung unmöglich, wie es mit Afghanistan weiter gehen soll.

Doch selbst Delhi und Islamabad teilen ein Interesse: Beide suchen Zugang zu den Energieressourcen Zentralasiens. Seit den 1990er Jahren wird über ein Pipeline-Projekt verhandelt, mit dem Gas aus Turkmenistan über Afghanistan und Pakistan bis nach Indien geleitet werden soll, wegen der beteiligten Länder wird das Projekt TAPI abgekürzt.

In Afghanistan setzt man auf eine Zukunft als Energiekorridor, hier in HeratBild: DW/S. Tanka Shokran

Dass dieses Projekt nicht tot ist, belegt die Reise einer Taliban-Delegation nach Turkmenistan Anfang Februar. Dort bekräftigten die Taliban ihre Unterstützung für die Pipeline und gelobten, deren Sicherheit zu garantieren. Derartige Projekte seien allerdings noch nicht weit gediehen, dämpft Thomas Ruttig die Erwartungen. Aber er urteilt: "Man kann für Afghanistan und alle anderen Beteiligten nur hoffen, dass diese Projekte umgesetzt werden können, in einer friedlichen Umgebung. Es ist das einzige wirklich realistische wirtschaftliche Pfund, mit dem man wuchern kann".

Noch scheint all das weit weg - und eine Phase blutiger Kämpfe um die Macht in Kabul sehr nah. Aber als Energie-Korridor könnte Afghanistan seine zentrale Lage endlich einmal von Nutzen sein.