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Afghanistan: IS-Dschihadisten fordern Taliban heraus

17. Februar 2025

Gleich zwei Attentate haben Afghanistan in der vergangenen Woche erschüttert. Zu einem hat sich die Dschihadistenorganisation "Islamischer Staat" bekannt. Der wendet sich vor allem gegen die Taliban.

Zwei Mitglieder der Taliban auf einem Motorrad und mit Fahnen in Kabul  am zweiten Jahrestag der Machtübernahme in Kabul, August 2023
Mitglieder der Taliban in Kabul am zweiten Jahrestag der Machtübernahme, August 2023 Bild: Siddiqullah Alizai/AP/dpa

Zwei Anschläge in Afghanistan innerhalb einer Woche, verübt mutmaßlich von der Dschihadistenorganisation Islamischer Staat (IS). Der erste fand am vergangenen Mittwoch in Kundus statt, als Angreifer Mitarbeiter der Taliban-Regierung attackierten, die gerade ihr Gehalt abholten. Jüngsten Berichten zufolge kamen dabei acht Menschen ums Leben. Am Donnerstag darauf folgte ein weiterer Anschlag, nämlich auf Büros von Regierungsmitarbeitern in Kabul. Sicherheitsleute erschossen den Täter, konnten aber nicht verhindern, dass es dabei zu einer Explosion kam. Dabei wurde neben dem Attentäter eine weitere Person getötet, drei weitere wurden verletzt.

Zu beiden Anschlägen übernahm die Dschihadistengruppe Islamischer Staat (IS) die Verantwortung. Allerdings stammten die Bekennerschreiben nicht von dem afghanischen Ableger des IS, dem sogenannten Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISPK), sondern der Führung des gesamten IS, sagt Thomas Ruttig, Mitbegründer der unabhängigen Denkfabrik "Afghanistan Analysts Network", im DW-Interview.

Dafür gebe es plausible Motive, so Ruttig: "Nachdem der IS aus Syrien und dem Irak vertrieben wurde und in die Defensive geriet, will die Zentrale sich nun wieder als aktiver Akteur inszenieren, der zwar über seinen regionalen Arm handelt, aber über die Art der Aktionen selbst entscheidet."

Ähnlich sieht es Conrad Schetter, Afghanistan-Experte und Direktor des Bonn International Centre for Conflict Studies (bicc). Für dieses und andere Attentate könnt der IS mehrere Gründe haben. "So könnte der IS die Taliban dazu drängen, die Machtansprüche des IS in Afghanistan ernst zu nehmen. Womöglich geht es dem IS aber auch schlicht darum, Terror zu verbreiten. Nicht ausgeschlossen ist zudem, dass auf diese Weise eher persönliche Rechnungen beglichen werden sollen, denn die Milizen des IS stammen ja teils aus den Reihen der Taliban. Die Grundbotschaft des IS dürfte aber sein, dass er weiterhin in Afghanistan präsent und jederzeit in der Lage ist, die Taliban herauszufordern. Man darf nicht vergessen, dass Afghanistan eine Drehscheibe für militante Islamisten in Westasien ist."

Im Kampf gegen die Dschihadisten: die Führung der Taliban, hier Außenminister Amir Khan Muttaqi (2. v.l.), September 2024Bild: WAKIL KOHSAR/AFP via Getty Images

Ausländische Urheber des Terrorismus?

Die afghanische Regierung macht für die Attentate ausländische Kräfte verantwortlich. Die Urheber der beiden Attentate hätten "Wurzeln außerhalb der Landesgrenzen und organisieren von dort aus ihre finsteren Bewegungen", erklärte der Sprecher des Innenministeriums, Abdul Mateen Qani, dem afghanischen Nachrichtensender Tolo-News zufolge.

Experten bezweifeln die Stichhaltigkeit dieser Behauptung. Sie gehöre in den Kontext der Schuldzuweisungen, mit denen Afghanistan und Pakistan einander überziehen, sagt Thomas Ruttig. "Pakistan beschuldigt Afghanistan, nicht genügend gegen die pakistanischen Taliban zu tun, die zum Teil von afghanischer Seite im Grenzgebiet zwischen beiden Ländern operieren. Aus Kabul hingegen heißt es, ISKP unterhalte in der pakistanischen Provinz Belutschistan mindestens ein Ausbildungslager und starte von dort aus Attacken in Afghanistan. An beidem ist zwar etwas dran. Ob aber einer oder beide der jetzigen Anschläge von dort ausgingen, lässt sich bislang nicht sagen." Allerdings rekrutiere sich der ISKP vielfach aus pakistanischen Kämpfern wie auch aus ehemaligen Mitgliedern zentralasiatischer Dschihadistengruppen.

Tatsächlich unterhielten die Taliban gute Arbeitsbeziehungen zu ihren Nachbarn, sagt Ellinor Zeino, ehemalige Leiterin des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul. "Das ist eine relativ neue Entwicklung." Dies gelte insbesondere mit Blick auf den Iran. "In den 90er Jahren standen die Taliban mit dem Iran beinahe im Krieg. Zugleich gingen sie auch sehr stark gegen die schiitische Minderheit im Land, die Hazara, vor. Heute hingegen sehen sich die Taliban als Schutzmacht aller Afghanen. Eben dies wie auch ihre pragmatische Außenpolitik wird ihnen heute von radikaleren und dschihadistischen Gruppen wie dem ISKP vorgeworfen."

Grenzzaun zwischen Pakistan und AfghanistanBild: Anjum Naveed/AP/picture alliance

Eine enorme Herausforderung

Die Angriffe des IS sind für die Taliban eine enorme Herausforderung. Gut dreieinhalb Jahre nach der Machtübernahme der Taliban haben sich die Lebensumstände vieler Afghaninnen und Afghanen verschlechtert. Am meisten leiden Frauen und Mädchen, denen Bildung größtenteils verwehrt wird.

Auch wirtschaftlich hat das Land einen rasanten Verfall durchlaufen. Zwar ist das Bruttoinlandsprodukt einem Bericht der Weltbank vom Dezember 2024 zufolge zuletzt um 2,7 Prozent gewachsen. Doch könne dies nur zehn Prozent der vorhergehenden Verluste ausgleichen. "Die meisten afghanischen Haushalte haben nach wie vor Mühe, ihre Grundbedürfnisse zu decken, und Armut ist nach wie vor weit verbreitet", heißt es in dem Weltbank-Report. "Bedürftige Gruppen, darunter Frauen, Kinder und Vertriebene, tragen nach wie vor die Hauptlast der wirtschaftlichen Not, da es keine sozialen Sicherungsmechanismen gibt."

Einem Bericht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zufolge waren im Februar 2024 rund 15,8 Millionen Menschen - von 40 Millionen insgesamt - akuter Ernährungsunsicherheit ausgesetzt. Fünf Millionen Menschen, darunter 3,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren, waren akut unterernährt. 

In dieser Situation hatten sich die Taliban bislang vor allem durch ihren Anspruch zu legitimieren versucht, die Sicherheit wieder herzustellen. Doch eben dieses Argument gerät durch terroristische Anschläge unter Druck.

"Die Taliban gehen rabiat gegen den IS vor", sagt Thomas Ruttig. "Sie sind in dieser Hinsicht sehr aktiv. Immer wieder kommt es zu Verhaftungen und Militäroperationen, bei denen angebliche oder tatsächliche IS-Kämpfer und -Sympathisanten, getötet oder verhaftet werden." Aber all das reiche nicht, der Bevölkerung die Verunsicherung zu nehmen, die sie angesichts der Attentate empfinde, so Ruttig. "Man muss aber auch sagen, dass diese Anschläge nicht in der Lage sind, das Taliban-Regime ernsthaft zu erschüttern."

Auf einem Markt in der Stadt Aktscha im Norden Afghanistans bitten Frauen um AlmosenBild: Atif Aryan/AFP/Getty Images

"Eine echte Gefahr"

Ähnlich sieht es Conrad Schetter. Tatsächlich sei das Sicherheitsniveau seit der Machtübernahme der Taliban erheblich gestiegen. "Aber mit den Anschlägen vermag der IS der Bevölkerung ein Unwohl-Gefühl aufzuzwingen, die Sorge, dass die derzeitige Sicherheit jederzeit erschüttert werden kann. Zwar ist das physische Sicherheitsniveau für afghanische Verhältnisse ausgesprochen hoch. Aber subjektiv verringert es sich durch die Anschläge."

Grundsätzlich habe der ISKP in der jungen, nicht-paschtunischen Bevölkerung enormes Rekrutierungspotential in Afghanistan, sagt Elinor Zeino. "Über die Hälfte der afghanischen Bevölkerung ist minderjährig beziehungsweise unter 15 Jahre alt. Diese jungen Leute erhalten von den Taliban keinerlei Zukunftsperspektiven. Zugleich lässt sie die internationale Gemeinschaft im Stich. Und ein Teil der jungen Generation könnte sich radikalisieren und sich womöglich Gruppierungen wie dem ISKP zuwenden. Das ist eine echte Gefahr." 

Exil-TV aus Frankreich für Frauen in Afghanistan

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Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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