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PolitikNahost

Afghanistan: IS und al-Kaida können sich gestärkt fühlen

Jennifer Holleis | Mehyeddin Hussein
18. August 2021

Die erneute Machtergreifung der Taliban dürfte auch Terrorgruppen wie IS und al-Kaida neuen Schub geben. Beide sind nicht nur in arabischen Ländern, sondern auch in Afghanistan präsent. Entstehen neue Terror-Allianzen?

Afghanistan | Taliban in Kabul
Taliban-Kämpfer in Nähe des Flughafens KabulBild: REUTERS

Wie geht es weiter in Afghanistan? Mit Sorge blicken westliche Politiker auf das Land am Hindukusch. Doch sie sind nicht die einzigen, die die Entwicklungen seit der Machtübernahme durch die Taliban verfolgen. Auch Terrorgruppen wie der Islamische Staat (IS), al-Kaida und andere dürften die jüngsten Entwicklungen genau im Auge behalten.

"Es ist klar, dass Dschihadisten, Salafisten, Islamisten in der gesamten Welt auf die Ereignisse schauen - und dass sie den Erfolg der Taliban auch als Ermutigung ansehen werden", sagt Guido Steinberg, Terrorismusexperte und Forscher an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, im DW-Interview.

Wo genau sich das faktisch auswirke, lasse sich im Moment zwar noch nicht sagen, so Steinberg weiter. "Aber es gibt einige Gebiete, in denen die Dschihadisten ohnehin stark sind. Und dazu gehört zunächst einmal Afghanistan." Dort habe der IS in den vergangenen Jahren eine starke Filiale namens 'Wilaya Khorasan' ('Provinz Khorasan') etabliert. "Wir müssen zudem damit rechnen, dass jetzt nicht nur der IS, sondern auch al-Kaida und kleinere Gruppierungen in Afghanistan und Pakistan stärker werden."

Die zwei Lager des Dschihadismus

Im internationalen Dschihadismus stünden sich faktisch zwei Lager gegenüber, so Steinberg weiter. "Auf der einen Seite haben wir den sogenannten 'Islamischen Staat' mit all seinen 'Provinzen' in Afghanistan, im Kaukasus, in Afrika, im Jemen. Er steht den Taliban wie Al-Kaida gleichermaßen feindselig gegenüber." Zugleich müsse man jedoch erkennen, dass die Dschihadisten gerade einen enormen Motivationsschub erhalten hätten: "Sie sehen natürlich, dass die Amerikaner zu schlagen sind. Das haben die Taliban bewiesen." 

Die neuen Herren des Landes: die Taliban im afghanischen PräsidentenpalastBild: dpa/AP/picture alliance

Neue Allianzen statt alter Feindschaften?

Neue Allianzen selbst unter bisher miteinander rivalisierenden Dschihadisten und Extremisten-Organisationen scheinen nun nicht mehr ausgeschlossen. In ihrer Radikalität seien die Gruppen bereits jetzt ideologisch eng miteinander verbunden, sagt Jassim Mohamad, Terrorismusforscher am 'European Centre for Counterterrorism and Intelligence Studies', im Gespräch mit der DW. Er hält es für durchaus denkbar, dass IS und al-Kaida alte Rivalitäten beilegen und künftig unter einer Art Schutzschirm der Taliban von Afghanistan aus agieren könnten.

Mohamad verweist darauf, dass sich beide Organisationen auch bereits im Jemen auf einen ähnlich gelagerten Kompromiss geeinigt hätten. "Der sieht vor, dass die beiden Gruppen einander nicht mehr bekämpfen", so der Terrorismus-Experte.

Ein Abkommen hätten außerdem auch Taliban und al-Kaida in Afghanistan längst miteinander geschlossen, so der Experte: "Es mag bisweilen den Anschein haben, als sei al-Kaida nach der Tötung bin Ladens oder in den letzten zehn Jahren nicht mehr sehr aktiv gewesen", so der Experte. Doch dies stimme nicht. "Dokumente und Untersuchungen zeigen klar, dass die Beziehungen zwischen den Taliban und al-Kaida sehr lebendig sind und dass al-Kaida die Taliban unterstützt."

Der Analyst geht davon aus, dass künftig weitere solcher Abkommen unter extremistischen Gruppen geschlossen werden. "Das nächste könnte ein Abkommen zwischen den Taliban und dem IS sein. Ein solches Abkommen könnte etwa die Vereinbarung enthalten, dass der IS seine Operationen nur außerhalb Afghanistans durchführt", mutmaßt Jassim Mohamad.

Generell könnten sich neben Afghanistan aber auch Libyen und Syrien zu Stützpunkten für die Vorbereitung von Terroranschlägen auch auf europäische oder amerikanische Ziele entwickeln, fürchtet der Experte.

Dürften sich ermutigt fühlen: Kämpfer des Terror-Netzwerks IS in Syrien (Archivild)Bild: Uncredited/Militant Photo/dpa/picture alliance

Neue Generation von Dschihadisten

Die heutige neue Generation dschihadistischer Führungspersonen könnte aus ihren strategischen und taktischen Fehlern in der Vergangenheit durchaus Lehren gezogen haben, nimmt auch Guido Steinberg an. Viele der früher miteinander verfeindeten Führungsfiguren des Islamischen Staats, aber auch der Taliban und von al-Kaida seien in den vergangenen Jahren getötet worden. "Das bedeutet, dass eine neue Generation diese alten Konflikte womöglich nicht mehr weiterführen möchte und stattdessen zusammenarbeiten wird."

Zudem gebe es heute insgesamt sehr viel mehr Dschihadisten als etwa 2001, als der 11. September die Welt erschütterte, so Steinberg. "Diese sind zwar teils untereinander zerstritten und über die Welt verteilt. Aber es sind Zehntausende. 2001 gab es dagegen vielleicht einige wenige Tausend."

Terrorismusexperte Guido Steinberg Bild: picture-alliance/Eventpress

Welchen Weg gehen die Taliban?

Allerdings gibt es Unterschiede, was das politische Selbstverständnis betrifft. Während der IS ein Kalifat weit über die Grenzen des Nahen Ostens hinaus anstrebt, wollen die Taliban ein Emirat primär in Afghanistan errichten. Dies gehe Hand in Hand mit ihrem Selbstverständnis als Bewohner des Landes und angrenzender Gebiete, so Terrorismusforscher Jassim Mohamad. Anders als Grupen wie al-Kaida und der IS, deren Mitglieder oftmals nicht einmal im Operationsgebiet geboren seien, konzentrierten sich die Taliban weitgehend auf Afghanistan. "Sie haben zudem verstanden, dass sie sich als politische Bewegung und nicht nur als radikale Gruppe darstellen müssen", meint Jassim Mohamed.

Die kommenden Wochen werden zeigen, ob die Taliban wirklich willens sind, sich als verlässliche politische Partei und internationaler Verhandlungspartner zu präsentieren - oder ob sie Afghanistan zu einer Art Zentrum für den internationalen Dschihadismus machen werden. UN-Generalsekretär Antonio Guterres befürchtet offensichtlich Letzteres: Er sagte kürzlich, die internationale Gemeinschaft müsse sich zusammenschließen, um sicherzustellen, "dass Afghanistan nie wieder als Plattform oder sicherer Hafen für terroristische Organisationen genutzt wird".

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.