1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Afghanistan: Wohl kein neues Flüchtlingsdrama

19. August 2021

Wiederholen sich die Ereignisse von 2015, als Hunderttausende nach Deutschland kamen? Experten winken ab. Dennoch sind die Flüchtenden längst Wahlkampfthema.

Afghanistan, Kabul | Hunderte Menschen warten vor dem Flughafen
Flughafen Kabul: Menschen warten verzweifelt darauf, Afghanistan verlassen zu können.Bild: AP/picture alliance

Nichts wie raus hier! Bilder der puren Verzweiflung vom Flughafen in Kabul kursieren am Montag in den sozialen Medien: Hunderte Männer laufen neben einem rollenden Flugzeug der US-Air Force her. Einige versuchen dann sogar, sich am Fahrwerk festzuklammern - und stürzen, so zeigen es Bilder, nach dem Start der Maschine in den Tod.

"Was wir hier sehen, ist die Verzweiflung von denen, die Angst vor den Taliban haben - oft mit guter Begründung - und die keinen Weg herausfinden", sagt Migrationsexperte Gerald Knaus im Interview mit der DW.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt: "Bitter, dramatisch und furchtbar ist diese Entwicklung insbesondere für die Menschen in Afghanistan." Sie gibt zu, die Lage lange falsch eingeschätzt zu haben.

Merkel macht deutlich, dass die Bundesregierung nicht plane, eine größere Zahl von Flüchtlingen in Deutschland aufzunehmen. "Unser Hauptziel ist, denen, die uns direkt geholfen haben, eine Perspektive zu bieten", stellt sie klar. Sie möchte, dass im Rahmen des Evakuierungseinsatzes der Luftwaffe rund 10.000 Helfer und ihre Angehörigen aus Afghanistan herausgeholt werden.

Andere Flüchtende müssten schauen, dass sie in der Region "eine sichere Bleibe finden". Dafür werde Deutschland rasch den Nachbarstaaten von Afghanistan Unterstützung anbieten, die Flüchtende aufnehmen.

Migrationsexperte: Kein Exodus aus Afghanistan

Doch dass sich nun massenhaft Menschen aus Afghanistan auf den Weg machen werden, bezweifelt Migrationsforscher Knaus. Die Stadt Kabul stehe bereits vollkommen unter der Herrschaft der Taliban, die überall Kontrollposten errichtet hätten. Auch kontrollierten sie alle Außengrenzen des Landes: "Die Vorstellung, dass jetzt spontan eine sehr große Zahl von Afghanen in die Nachbarländer geht, entbehrt der praktischen Grundlage. Das ist ja derzeit gar nicht möglich."

Die Grenzen sind dicht. Nachbarländer haben schon erklärt, dass afghanische Flüchtlinge bei ihnen nicht willkommen sind

Millionen Afghanen schon jetzt auf der Flucht

Das UN-Flüchtlingshilfswerk, UNHCR, registrierte Ende 2020 rund 2,6 Millionen afghanische Flüchtlinge - allein 1,4 Millionen davon lebten im benachbarten Pakistan. Andere Experten - und auch Unionskanzlerkandidat Armin Laschet - halten eher eine Zahl von drei Millionen für realistisch. Hinzu kommen, so die UN, noch einmal ebenso viele Binnenflüchtlinge. Wie viele der rund 38 Millionen Afghanen sich in der nahen Zukunft auf den Weg machen könnten? Vollkommen unklar, sagt Migrationsexperte Knaus.

Migrationsexperte Gerald Knaus gilt als Vater des EU-Türkei-FlüchtlingsabkommensBild: Francesco Scarpa

Doch schon wird aus dem deutschen Innenministerium die erste konkrete Zahl möglicher Flüchtlinge genannt. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) rechnet mit 300.000 bis zu fünf Millionen Afghanen, die flüchten könnten.

"Diese Zahlen sind völlig willkürlich gewählt. Er hat aus meiner Sicht keinerlei Grundlagen, um eine solche Zahl zu nennen", empört sich gegenüber der DW Bijan Djir-Sarai. Der FDP-Bundestagsabgeordnete ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Was Seehofer da mache, "das verunsichert ja nur die Bevölkerung", ergänzt Djir-Sarai.

Wahlkampfthema Flüchtlingsfrage

Und ganz schnell ist da wieder die Frage: Könnte sich das Flüchtlingsdrama von 2015/16 wiederholen? Und: Wird es erneut zum Wahlkampfthema? Damals kamen mehr als eine Million Menschen nach Deutschland; viele von ihnen Syrer. Das Thema dominierte und polarisierte lange Zeit die politischen Debatten in Deutschland.

Oktober 2015: Flüchtende an der deutsch-österreichischen Grenze. So etwas wird sich nicht wiederholen, glauben ExpertenBild: Getty Images/J. Simon

"Die Flüchtlingsfrage ist praktisch schon ein Wahlkampfthema", sagt Politikwissenschaftler Klaus Stüwe von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt im Interview mit der DW. "Wenn die Flüchtlingszahlen steigen, wovon wohl auszugehen ist, dann wird sich die Situation ändern. Die politische Polarisierung wird zunehmen." Noch sei man sich nahezu parteiübergreifend einig, dass nun schnell afghanischen Ortskräften, die die Bundeswehr und deutsche Hilfsorganisationen unterstützt haben, geholfen werden müsse. Aber da ende auch schon die Gemeinsamkeit, glaubt Stüwe.

Laschet spricht vom "Fehler" von 2015

"Wir dürfen die Fehler von 2015 nicht wiederholen", heißt es von Unionskanzlerkandidat Armin Laschet und anderen Unionspolitikern in diesen Tagen immer wieder. Sie distanzieren sich damit indirekt von Kanzlerin Angela Merkel, die damals die deutschen Grenzen offen gehalten hatte.

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz will sich nicht auf eine Zahl festlegen, wie viele Menschen in Deutschland aufgenommen werden könnten. Man dürfe die Nachbarländer aber nicht in Stich lassen.

Die Grünen zeigen sich offener für eine Aufnahme. Man dürfe nicht warten, bis eine Einigung aller 27 EU-Länder komme, sondern müsse mit den Ländern zusammenarbeiten, die ebenfalls bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen, sagte die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock.

Die Flüchtlingsfrage - wer profitiert, wer verliert?

"Die AfD hat jetzt endlich ein Thema, mit dem sie aus ihrem momentanen Umfragetief herauskommen kann", glaubt Stüwe. Die rechtsgerichtete Partei fordere schon jetzt ein "Aussetzen des Asylrechts und eine Verstärkung des Grenzschutzes".

"Das wird insbesondere die Unionsparteien in Bedrängnis bringen und könnte dazu führen, dass CDU und CSU rechtskonservative Wählerinnen und Wähler an die AfD verlieren", sagt Stüwe. Aber auch die SPD müsse sich Gedanken machen. Es könne zur Abwanderung aus dem konservativen Arbeitermilieu der SPD kommen, "wenn die Parteilinke ähnlich wie die Grünen eine großzügigere Aufnahme von Flüchtlingen fordert".

Eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey für die "Augsburger Allgemeine" hat ergeben, dass eine große Mehrheit der Deutschen Angst vor einer ähnlichen Situation wie 2015/16 hat. Knapp zwei Drittel (62,9%) befürchtet, dass aus Afghanistan viele Flüchtlinge ins Land kommen könnten.

2021 ist nicht 2015

Dennoch: Politikwissenschaftler Stüwe, Migrationsexperte Knaus und der FDP-Außenexperte Djir-Sarai sind sich einig: Der Vergleich mit 2015 sei falsch: "Es ist irreführend, von 2015 zu reden. 2015 wird sich nicht wiederholen", meint Gerald Knaus. "Die Türken haben für Syrer damals kein Visum verlangt. Jeder konnte fliehen, und dann war man in der EU."

Bijan Djir Sarai sagt: "Die Situation ist eine andere als 2015. Man hat mittlerweile auch andere Erfahrungswerte."

Und Klaus Stüwe ergänzt: "Deutschland ist heute viel besser vorbereitet: Bund, Länder und Gemeinden haben eine Infrastruktur zur Registrierung und Aufnahme von Flüchtlingen, die es 2015 noch nicht gab. Einen Kontrollverlust des Staates werden wir sicher nicht mehr erleben."

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen