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PolitikAsien

Afghanistans Nachbarn warten auf Regierungsbildung

Hans Spross
19. August 2021

Die großen Nachbarn China, Indien, Pakistan und Iran stellen sich auf Kooperation mit den Taliban in Kabul ein, bei aller Unterschiedlichkeit der Interessen.

Afghanistan | Treffen ehemaliger Präsident Hamid Karzai mit Taliban Delegation
Taliban-Führung berät sich mit dem früheren Präsidenten Hamid Karsai (3 v.l.) Bild: Handout Taliban/AP Photo/picture alliance

Peking gibt sich bislang gelassen angesichts der plötzlichen Machtübernahme durch die Taliban  in Kabul. Die Botschaft arbeite normal weiter und das dortige Personal bleibe auf dem Posten, erklärte Außenamtssprecherin Hua Chunying am Montag. Die meisten anderen Chinesen hätten allerdings Afghanistan bereits zuvor verlassen, schreibt die Hongkonger "South China Morning Post".

Die Sprecherin begründete die chinesische Haltung mit den etablierten Kontakten Pekings zu den Taliban. Diese hätten "mehrfach ihren Wunsch nach guten Beziehungen zu China ausgedrückt, in der Erwartung, dass China sich beim Wiederaufbau und der Entwicklung  Afghanistans beteiligen werde." Gleichzeitig hätten die Taliban zugesichert, dass sie es nicht dulden würden, dass afghanisches Territorium von Kräften genutzt würde, die China schaden wollen. Peking begrüße dies.

Taliban sollen keine uigurische Separatisten dulden

In der Vergangenheit hätten sich separatistische uigurische Kämpfer der sogenannten Ostturkestanischen Muslimischen Bewegung (ETIM) in Afghanistan aufgehalten, sagt Andrew Small vom German Marshall Fund of the United States im  DW-Interview. Laut Small dürfte die unklare Haltung der Taliban gegenüber uigurischen Extremisten aus Xinjiang, die Peking für eine Reihe von tödlichen Anschlägen verantwortlich macht, latent für Spannungen zwischen Peking und der künftigen afghanischen Regierung sorgen.

Talibanführer Mullah Abdul Ghani Baradar und Außenminister Wang Yi bei einem Treffen in Tianjin im Juli 2021Bild: Li Ran/Xinhua/AP/picture alliance

"Die Frage ist, ob die Taliban von heute dieselben Taliban wie vor 20 Jahren sind, als sie an der Regierung waren", zitiert die SCMP Hua Liming, einen früheren Botschafter Pekings in Teheran. "Sie haben derart tief verwurzelte und komplexe Beziehungen zu terroristischen und extremistischen Gruppen, dass man jetzt noch nicht sagen kann, wie viel Sorgen sich China tatsächlich machen muss". Die Taliban-Führung habe bei ihrem Treffen mit Außenminister Wang Yi in Tianjin im Juli zwar  ihren Wunsch nach guten Beziehungen zu China bekräftigt, "aber ihre Haltung und ihre Zusagen können sich auch wieder ändern", so der Experte für Chinas Beziehungen zum Nahen und Mittleren Osten.

Was die Anerkennung der künftigen afghanischen Regierung betrifft, so lautet die chinesische Formel: Man warte ab, bis sich eine "offene, inklusive und möglichst breite Schichten repräsentierende Regierung" gebildet habe, bevor Peking über eine diplomatische Anerkennung entscheide.

Indien sieht Entwicklungsprojekt gefährdet

Indien hat am Dienstag sein gesamtes Botschaftspersonal, über 190 Personen, aus Kabul abgezogen. Das Sicherheitskabinett trat am selben Tag  unter Vorsitz von Ministerpräsident Modi zusammen. "Wir werden die Entwicklung aufmerksam beobachten und uns anschauen, welche Schritte die Taliban während und nach der Übergangsperiode ergreifen", erklärte ein hoher Regierungsmitarbeiter gegenüber der DW. Er fügte hinzu: "Wir werden ebenfalls bewerten, inwieweit sie die in den vergangenen 20 Jahren erzielten Fortschritte beibehalten werden."   

Indische Militärmaschine bringt Staatsangehörige aus AfghanistanBild: AFP/Getty Images

Experten warnen vor einem Scheitern der umfangreichen indischen Entwicklungshilfe für Afghanistan. "Nach zwei Jahrzehnten Unterstützung für die Regierung in Kabul und Entwicklungsprojekten im Umfang von drei Milliarden US-Dollar besteht nun die Gefahr, dass diese Politik zurückgefahren wird", sagt Shanthie Mariet D'Souza von der Kautilya School of Public Policy gegenüber der DW. Die Entwicklungsexpertin mit langjähriger Erfahrung in mehreren Provinzen Afghanistans spricht sich für eine "pragmatische und kluge Politik" aus, um in Kooperation mit den Taliban die bisherigen Entwicklungserfolge zu sichern und eine humanitäre Krise zu verhindern.

Neu Delhi befürchtet Auswirkungen der afghanischen Entwicklungen auf KaschmirkonfliktBild: Faisal Khan/AA/picture alliance

Strategische Fragen für Neu Delhi

Wie für China ergeben sich auch für Indien aus dem Sieg der Taliban mögliche terroristische Bedrohungsszenarien. Im Kaschmir-Konflikt aktive pro-pakistanische Gruppen wie Lashkar-e-Taiba und Jaish-e-Mohammad nutzen schon jetzt Trainingslager und andere Einrichtungen im südlichen afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet. Durch die Machtübernahme der Taliban könnten diese Gruppen ihre Operationsbasis für Angriffe gegen Indien nun erweitern, befürchten indische Sicherheitskreise. "Von strategischer Bedeutung ist die Frage, wie sich die Beziehung der Taliban zu China und Pakistan entwickelt und ob sie den Stellvertreterkrieg Pakistans in Kaschmir unterstützen", fasst Navnita Behera von der Universität Delhi zusammen.

Zwiespältiger Sieg für Pakistan

Pakistan, genauer gesagt der pakistanische Militärapparat, hat die afghanischen Taliban jahrzehntelang indirekt unterstützt, nicht zuletzt um "strategische Tiefe" im Konflikt mit Indien zu gewinnen. Nun haben die Taliban ihr Ziel erreicht, ist also auch Pakistan ein Gewinner? So einfach ist es nicht, sagt Südasien-Expertin Madiha Afzal  von der Denkfabrik Brookings Institution: "Der Sieg der Taliban in Afghanistan wird der pakistanischen Terrorgruppe Tehrik-e-Taliban (TTP) , die für den Tod Zehntausender Pakistaner verantwortlich ist, neue Kraft und Aufschwung verleihen. Auch andere fundamentalistische Gruppen könnten, durch die Entwicklung im Nachbarland ermutigt, den pakistanischen Staat vor neue Bedrohungen stellen." 

Kommentar des pakistanischen Premiers Imran Khan zur Machtübernahme der Taliban: "Afghanen haben sich aus den Fesseln der Sklaverei befreit" Bild: Saiyna Bashir/REUTERS

Hinzu komme, dass die Taliban inzwischen viel unabhängiger von Islamabad als früher agierten, sagt Madiha Afzal. Die Taliban hätten seit dem Abkommen von Doha mit den USA international an Legitimität gewonnen und seien nicht mehr so sehr auf den Rückhalt durch Pakistan angewiesen.

Islamabad wünsche sich von der künftigen Beziehung zur neuen Führung in Kabul vor allem eines, meint Claude Rakisits, Professor für internationale Beziehungen  an der Australian National University: Schutz vor grenzüberschreitenden Terroranschlägen, die von sicheren Rückzugsgebieten der TTP auf afghanischem Territorium aus gestartet werden. Darüber hinaus sei Islamabad sehr daran interessiert, dass sich Afghanistan dem Chinesisch-Pakistanischen Wirtschaftskorridor (CPEC) anschließt, einem zentralen Bestandteil der chinesischen "neuen Seidenstraße". Dies wiederum hängt von der Entwicklung der Beziehungen der Taliban-Führung zu Peking ab.

Pakistanische Soldaten kontrollieren Afghanen auf dem Weg zurück nach AfghanistanBild: AFP/Getty Images

Was die Anerkennung der neuen, noch zu bildenden Regierung in Kabul betrifft, wolle Pakistan keinen Alleingang machen, betonte der pakistanische Informationsminister Fawad Chaudhry am Dienstag. Hierbei handele es sich um eine "regionale Entscheidung", die nach Konsultationen mit regionalen und internationalen Mächten zu treffen sei. "Wir stehen in dieser Frage in Kontakt mit unseren regionalen und internationalen Freunden", sagte Chaudhry.

Sorge vor neuer Flüchtlingswelle im Iran

In Teheran ist man froh, die US-Präsenz in seiner Nachbarschaft los zu sein, einerseits. Andererseits sorgt man sich um die Sicherheit und Stabilität an der langen Grenze zu Afghanistan. Derzeit sind gut 750.000 afghanische Flüchtlinge offiziell im Iran registriert. Bis zu zwei Millionen weitere Afghanen leben illegal im Land, jetzt sind erneut Tausende auf der Flucht vor den Taliban.

Am iranisch-afghanischen Grenzkontrollpunkt in Milak, südöstliche Provinz Sistan-BaluchestanBild: Abedin Taherkenareh/dpa/picture alliance

An der 950 Kilometer langen Grenze zu  Afghanistan wurden drei Auffangzonen eingerichtet. "Sobald sich die aktuelle Situation wieder entspannt hat, können die Flüchtlinge von dort aus wieder in ihre Heimat zurückkehren", sagte Regierungssprecher Hossein Kasemi. 

Außerdem ist immer noch gut in Erinnerung, dass bei der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan vor 25 Jahren im iranischen Konsulat in Masar-i-Scharif acht iranische Diplomaten und ein Korrespondent der amtlichen Nachrichtenagentur IRNA ermordet wurden. Jener Tag, der 8. August, steht bis heute als "Tag der Journalisten" im iranischen Kalender. 

"In Kabul ist alles friedlich"

Jetzt versucht Teheran sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren. Die iranische Botschaft in Kabul bleibe offen und arbeitet normal weiter, berichteten staatliche Medien im Iran am Dienstag. Das Gleiche gilt für das Konsulat in Masar-i-Scharif. Simak Rahmani, ehemaliger Chefredakteur der Zeitung Shahrvand, berichtet, das Kulturministerium habe vergangene Woche allen Medien "empfohlen", in ihrer Berichterstattung über die Taliban Wörter wie "barbarisch", "Verbrechen" oder ähnliches zu vermeiden. Dennoch sehen viele Journalisten die Taliban nach wie vor sehr kritisch, insbesondere ihre Haltung gegenüber Frauen, und berichten entsprechen vor allem in sozialem Medien. 

Taliban-Kämpfer patrouillieren durch die Straßen von KabulBild: Rahmat Gul/AP/picture alliance

"Die Taliban haben sich verändert", berichten hingegen die Korrespondenten des iranischen Staatsfernsehen aus Afghanistan. "Hier in Kabul ist alles friedlich. Die Taliban sorgen für Sicherheit und sind freundlich zu den Menschen", heißt es in den Videos, die von den Korrespondent in sozialen Netzwerken gepostet werden. Auch andere iranische Medien, die den Hardlinern und Revolutionsgarden nahestehen, berichten mit Sympathie über die neuen Herrscher im Nachbarland.   

Teheran führt bereits seit langem Gespräche mit den Taliban. "Als Nachbar und Bruder wird der Iran Afghanistan beistehen" sagte Präsident Ebrahim Raisi, nachdem die Taliban Kabul weitgehend ohne Widerstand erobert hatten. Die militärische Niederlage der USA und ihr Rückzug aus Afghanistan eröffne die Chance für dauerhaften Frieden und Stabilität. Raisi appellierte an alle politischen Gruppen in Afghanistan, eine nationale Einigung anzustreben.  (Mit Berichten von Murali Krishnan aus Neu Delhi, Haroon Janjua aus Islamabad und Shabnam von Hein) 

 

 

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