Black Europe
26. August 2014Mit einer Frage fing alles an. "Wie konnte es sein, dass die amerikanische Musik - also der Blues und der Jazz - Anfang des 20. Jahrhunderts so einen phänomenalen Siegeszug um die Welt angetreten hat?", fragte sich der Jazzhistoriker und leidenschaftliche Musikfan Rainer Lotz. Und machte sich auf die Suche nach frühen Tondokumenten von amerikanischen und afrikanischen Musikern in Europa. Lotz stieß auf jede Menge alter Schätze, die er nun unter dem Titel "Black Europe" veröffentlichte.
Die Sammlung enthält nicht nur Aufnahmen von amerikanischen Entertainern mit afrikanischen Wurzeln, die sich von der größeren Reisefreiheit in Europa anlocken ließen. Auch viele Afrikaner sind dort zu hören. Er wolle ein vollständiges Bild zeichnen, sagt Lotz im Gespräch mit der DW. Den Vorwurf der Gleichmacherei weist er jedoch zurück. "Menschen schwarzer Hautfarbe haben sich in Europa gekannt, ausgetauscht und zum Teil auch miteinander musiziert", so begründet Lotz die gewählte Perspektive.
Musikgeschichte in Wachs
Wenn die Hautfarbe zum obersten Auswahlkriterium wird, sind die Ergebnisse entsprechend weit gestreut. So findet sich auf "Black Europe" etwa Musik von afrikanischen Geistlichen - wie dem Nigerianer Josiah Ransome-Kuti, der 1922 in London Kirchenlieder in Yoruba aufnahm, die er für seine Gemeinde komponiert hatte. Eine andere ergiebige Quelle geht auf die Dokumentationswut verschiedener Wissenschaften zurück: Afrikanisten machten Aufnahmen von Kriegsgefangenen während des Ersten Weltkriegs, um afrikanische Sprachen festzuhalten. Und auch das neue Fach der Vergleichenden Musikwissenschaft brachte viele Tonaufnahmen hervor.
"Dahinter stand der Wunsch der damaligen Zeit, Musikkulturen zu dokumentieren, bevor sie verschwinden - weil sie aussterben oder sich mit anderen Kulturen vermischen", sagt Archivarin Ricarda Kopal. Sie betreut die alten Schätze des Berliner Phonogramm-Archivs. Die Forscher benutzten das erste Tonaufnahmegerät überhaupt: den Phonographen, eine Erfindung des Amerikaners Thomas Edison. Wer eine Aufnahme machen wollte, musste in einen Trichter singen oder sprechen, eine Nadel zeichnete die Schallwellen auf einem Zylinder auf, der mit Wachs beschichtet war.
Jahrzehnte der Lagerung haben viele dieser empfindlichen Zeitzeugnisse zerstört. Nicht nur vertragen die Wachswalzen keine Temperaturen über 20 Grad. Die mit Vlies gepolsterten Pappbehälter, in denen die Walzen lagerten, seien zudem sehr anfällig für Schimmel, so Kopal. "Daher müssen sie ganz trocken gelagert werden."
Jagd nach dem Exotischen
Einige der ältesten Aufnahmen in der Sammlung stammen von der Pariser Weltausstellung 1900. Für die Prunkveranstaltung war kein Aufwand zu groß. Das Gastgeberland Frankreich eröffnete aus diesem Anlass das unterirdische Bahnnetz von Paris - die weltbekannte Metro. Und mehr als das: "Diese Weltausstellung diente auch dazu, den französischen Landsleuten und der Welt zu zeigen: Seht mal her, was wir für eine große Kolonialmacht sind", wie Rainer Lotz berichtet.
In so genannten "villages nègres" - "Negerdörfern" - stellte Frankreich Menschen aus seinen afrikanischen Besitztümern zur Schau, die dort scheinbar ihrem Alltag nachgehen sollten. Auch aus Madagaskar wurden Menschen eingeschifft, die Musik und Tänze präsentierten. Erst vier Jahre zuvor hatte Frankreich die Königin von Madagaskar abgesetzt und sich das Land unterworfen.
So genannte "Völkerschauen" waren um die Jahrhundertwende auch in Deutschland im Trend. Sie sollten dem Publikum das Leben in den Kolonien vermitteln. Nicht selten ging es auch darum, die vermeintliche Überlegenheit der Kolonialherren darzustellen - und so Europas Herrschaft über Afrika zu rechtfertigen. Und auch die Zuschauer wollten sehen, wie Afrikaner in Hütten hausten, nur mit einem Lendenschurz bekleidet. "Das vermeintlich Exotische sah man gerne", sagt die Kölner Ethnologin Marianne Bechhaus-Gerst. "Gerade zu Zeiten, als man in Deutschland noch hochgeschlossen herumlief, brachte auch der Aspekt der Erotik den Veranstaltern Geld ein."
Aber auch die beteiligten Darsteller und Künstler profitierten von derartigen Vorführungen, wie Bechhaus-Gerst betont. Nicht nur, dass sie in ganz Europa herumkamen. Auch sie verdienten Geld: "Es gab ja Verträge, die genau festhielten, was sie zu leisten hatten und was sie dafür bekommen sollten", so die Ethnologin. "Das gab ihnen eine gewisse Macht: Wenn die Veranstalter die Verträge nicht einhielten, streikten die Darsteller."
Herzschmerz und große Politik
Mehrere Jahre haben Rainer Lotz und seine Ko-Autoren in das Projekt "Black Europe" gesteckt. Das Ergebnis ihrer gründlichen Recherchen verblüffte selbst den erfahrenen Labelchef Richard Weize, dessen Musiklabel "Bear Family Records" auf die Wiederveröffentlichung historischer Aufnahmen spezialisiert ist. Mit Material für drei oder vier CDs habe er gerechnet, sagt Weize der DW. Am Ende wurden es 44 CDs. Und zwei Begleitbände im Schallplattenformat - über siebenhundert reich bebilderte Seiten mit viel Platz für Anekdoten.
Wie die vom tansanischen Missionsschüler, der 1911 in Berlin ein Volkslied aus seiner Heimat zum Besten gab. Es entpuppte sich als Adaption von "Muss i denn zum Städtele hinaus", einem deutschen Volkslied über die Trennung von der Geliebten - ein schöner Beleg, wie vielfältig afrikanisch-europäische Kontakte auch vor 100 Jahren waren. Oder die Geschichte vom südafrikanischen Bürgerrechtler Sol Plaatje. Auf einer Reise nach Großbritannien nahm er 1923 einige Volkslieder auf. Versteckt hinter einer solchen Aufnahme fand sich "Nkosi Sikelel'i Afrika" ("Gott segne Afrika"). Das ursprüngliche Kirchenlied sollte zum Symbol afrikanischer Unabhängigkeitsbewegungen werden und ist heute die Nationalhymne von gleich drei afrikanischen Ländern: Tansania, Sambia und Südafrika.