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Politik

Agenda 2010: Chronik einer Megareform

Helena Kaschel
28. Februar 2017

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz will Teile der Agenda 2010 korrigieren. Bis heute ist das Reformpaket umstritten. Hat es die deutsche Wirtschaft gerettet oder die Gesellschaft gespalten? Oder beides? Ein Rückblick.

Deutschland - Montagsdemonstration in Leipzig
Nach ihrer Einführung kam es immer wieder zu Protesten gegen die Agenda 2010, wie hier 2004 in LeipzigBild: picture-alliance/ZB/P. Endig

Am Morgen des 14. März 2003, um kurz nach 9, trat Bundeskanzler Gerhard Schröder an das Rednerpult im Bundestag. "Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fordern und mehr Eigenleistung von jedem einzelnen abfordern müssen", sagte der Sozialdemokrat ins Mikrofon - und stellte den Fraktionen die Agenda 2010 vor, ein umfassendes Reformpaket, das in den kommenden Jahren den Arbeitsmarkt und das Sozialsystem der Bundesrepublik vollständig umkrempeln sollte.

Ziel sei es, Deutschland "wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa zu führen", so Schröder in seiner Regierungserklärung. Dafür brauche es "Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung". Zu diesem Zeitpunkt war die Arbeitslosenquote auf 11,3 Prozent gestiegen (heute liegt sie bei 6,3 Prozent), das Bruttoinlandsprodukt war rückläufig, die Renten- und Krankenkassen waren überlastet.

Soziale Einschnitte

Im Zentrum der Agenda 2010 standen von Beginn an Arbeitsmarktreformen. Das an das Einkommen gekoppelte Arbeitslosengeld, nun ALG I genannt, wurde nur noch für maximal zwölf Monate ausgezahlt. Über 55-jährige Erwerbslose konnten noch maximal 18 Monate damit rechnen. Die Arbeitslosenhilfe, die vor den Strukturreformen auf das Arbeitslosengeld gefolgt war, wurde abgeschafft. An ihre Stelle trat das "Arbeitslosengeld II" - oder das von der sogenannten Hartz-Kommission entworfene "Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt", kurz Hartz IV.

Eine weitere Neuerung: Das ALG II entsprach der Höhe des früheren Sozialhilfesatzes und richtete sich nicht nach dem ehemaligen Einkommen des Arbeitslosen, sondern nach dessen "Bedürftigkeit": Empfänger durften kein Vermögen besitzen, das bestimmte Niedriggrenzen überstieg, und mussten alle Vermögensverhältnisse offenlegen - einschließlich Erspartem und Kindersparbüchern. So sollte Sozialbetrug verhindert werden.

Bundeskanzler Gerhard Schröder bei der ersten von vier Regionalkonferenzen zur Agenda 2010 in Bonn im April 2003Bild: picture-alliance/dpa

Eine niedrige Grundsicherung als Anreiz, arbeiten zu gehen - so lautete die Devise. Mit der Agenda 2010 galt außerdem jede legale Tätigkeit für ALG-II-Empfänger als zumutbar, selbst wenn sie deutlich schlechter bezahlt oder der Empfänger dafür überqualifiziert war. Lehnte ein Empfänger eine Tätigkeit ab, wurde das ALG II für drei Monate um 30 Prozent gekürzt.

Auch die Jobsuche änderte sich ab 2003 dramatisch: Aus Arbeitsämtern wurden "Agenturen für Arbeit", die zunächst in Kooperation mit den Sozialämtern "Arbeitsgemeinschaften" (ARGE) bildeten. 2010 folgte auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Neuorganisation zu "Jobcentern". Mit der Agenda lockerte die rot-grüne Koalition außerdem den Kündigungsschutz und gab Unternehmen beim Thema Zeitarbeit mehr Spielraum.

Patienten und Versicherte werden zur Kasse gebeten

Aber nicht nur das Sozialsystem, auch das Gesundheitswesen, das Rentensystem, die Bildungs- und Familienpolitik wurden reformiert. Die Bildungsausgaben sollten steigen, Ganztagsschulen gefördert und das BAföG der Zeit angepasst werden. Außerdem sah das Paket mehr Geld für Kinderbetreuung vor.

Zwar wurde die staatlich geförderte private "Riester-Rente" schon 2002 eingeführt, aber mit den Reformen erweiterte die Regierung Schröder die Rentenformel um den sogenannten "Nachhaltigkeitsfaktor", der die Rentenhöhe vom Verhältnis der Beitragszahler zu den Rentenbeziehern abhängig machte.

Mehr "Eigenverantwortung" forderte die Agenda nicht nur von Arbeitslosen, sondern auch von Patienten und Krankenversicherten. Zahlreiche Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung wurden gestrichen. Mit der 2013 wieder abgeschafften Praxisgebühr von 10 Euro pro Quartal wurden Patienten zur Kasse gebeten. Zahnersatz und Krankengeld mussten Versicherte ab sofort alleine tragen, anstatt sich die Kosten mit dem Arbeitgeber zu teilen.

2005 wurde ein zusätzlicher Beitragssatz von 0,9 Prozent eingeführt, den seither ebenfalls alleine die Versicherten zahlen müssen. Insgesamt hoffte die rot-grüne Regierung, mit den Maßnahmen den Beitragssatz für die Krankenversicherung unter 13 Prozent drücken. Inzwischen liegt er bei 14,6 Prozent.Umstrittene Bilanz

Martin Schulz, hier auf Arbeitnehmerkonfernz der SPD in Bielefeld, will die Agenda 2010 reformierenBild: picture-alliance/dpa/F. Gentsch

In seiner Regierungserklärung hatte Schröder versprochen, durch die Agenda 2010 würden "die Gerechtigkeit zwischen den Generationen gesichert und die Fundamente unseres Gemeinwesens gestärkt" werden - ein großer Anspruch. Befürworter argumentieren, Deutschland stünde ohne den Kurswechsel wirtschaftlich längst nicht so gut da wie heute. Kritiker beklagen unter anderem das gesellschaftliche Stigma, mit dem Millionen Deutsche seit der Einführung von Hartz IV zu kämpfen hätten.

Tatsächlich hatten die Reformen "einen großen Einfluss auf den Arbeitsmarktaufschwung, wie wir ihn seit gut zehn Jahren sehen", sagt Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Vor allem die Reformierung der damaligen Bundesanstalt für Arbeit, die bessere Betreuung und Vermittlung von Arbeitslosen hätten dazu geführt, dass die, die eine Beschäftigung suchten, auch häufiger eine fanden.

Allerdings boomten nach der Einführung der Agenda vor allem der Niedriglohnsektor und prekäre Arbeitsverhältnisse. "Minijobs, Leiharbeit, Befristungen, die Zahl der Solo-Selbstständigen - all das hatte zur Zeit der Reformen deutlich zugenommen", sagt Weber. "Den Trend einer schwachen Lohnentwicklung gab es schon seit den 90er Jahren, mit Hartz IV hat sich die Situation aber noch mal verschärft."

"Wozu eigentlich Sozialdemokratie?"

Für die SPD selbst läutete die Agenda 2010 einen beispiellosen Niedergang ein. Auf das Reformpaket folgte eine Identitätskrise. Vor allem Arbeiter, Arbeitslose und Gewerkschafter nahmen der Partei den Modernisierungskurs übel - auch, wenn er nur eine Reaktion darauf war, "dass die SPD in den 80er und 90er Jahren keine Wahlen mehr gewinnen konnte", sagt Matthias Micus vom Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Mit der Agenda 2010 habe man die Spirale zu weit gedreht. Sie hätte dazu geführt, "dass die Sozialdemokratie ihres Wesenskerns beraubt wurde. Vorher konnte man sagen: 'Wir gewinnen keine Wahlen, aber wir sind die Partei der sozialen Gerechtigkeit und machen Politik für den kleinen Mann'. Das galt dann plötzlich nicht mehr. Man wusste nicht mehr: Wozu eigentlich Sozialdemokratie?"

Dass Martin Schulz nun angekündigt hat, Teile der Agenda 2010 reformieren zu wollen, hält Micus nicht für glaubwürdig. "Wo war er denn 2003 und in den Folgejahren? Er ist vorher nie mit Kritik an der Agenda aufgefallen, im Gegenteil. Bis zu seiner Nominierung hat er sie immer verteidigt. Jetzt ist sie plötzlich nicht mehr richtig."