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Kunst

Wie Ai Weiwei die Inhaftierung überlebte

Elizabeth Grenier
26. November 2021

Ai Weiwei gilt als einer der berühmtesten lebenden Künstler. Seine Memoiren handeln nicht nur von seinem eigenen Leben, sondern auch von Chinas Geschichte.

Mit verschränkten Armen steht Aiweiwei in einem blauen Hemd in seinem Studio, umgeben von niedrigen Holzstämmen
Der Künstler Ai Weiwei im Jahr 2015 in seinem Studio in BerlinBild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Der chinesische Künstler Ai Weiwei hat in Berlin seine Autobiografie "1000 Jahre Freud und Leid" vorgestellt, vom Verlag Penguin Random House in 14 Sprachen veröffentlicht. Der Künstler und Aktivist, der sich seit 2015 vor allem durch seine Auseinandersetzung mit den Themen Migration und Flucht einen Namen gemacht hat, ist bekannt für provokante Aktionen und Werke - und dafür, kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Anlässlich seines Umzugs von Berlin nach Großbritannien hatte Ai gegenüber der britischen Tageszeitung "The Guardian" geäußert, dass im deutschen Alltag noch immer Nazi-Gedankengut existiere. 

Ai Weiwei hält sich mit Kritik an Deutschland zurück

Bei einer Veranstaltung in Berlin anlässlich der Buchveröffentlichung äußerte sich der Künstler zu seinen Memoiren, moderiert vom deutschen Schriftsteller Daniel Kehlmann, bei Kritik und Publikum gleichermaßen beliebt. Kehlmann ermutigte Ai in Berlin, dem Publikum Einblick in seine fremdenfeindlichen Erfahrungen in der deutschen Hauptstadt zu geben. Ai Weiwei wiederholte diese Kritik nicht und sagte stattdessen, dass er "mit einem großen Mundwerk geboren" und nur eine von vielen Stimmen sei - und diese nicht unbedingt richtig sein müsse. Er fügte hinzu, dass er viele seiner früheren Aussagen bereue.

​​​​​​Die Autobiographie widmete Ai auch seinem Vater, dem berühmten chinesischen Dichter Ai QingBild: Penguin Verlag München

Abseits seiner zahlreichen aufsehenerregenden Aktionen der vergangenen Jahrzehnte, die Ai Weiwei laut Kehlmann zum "vielleicht berühmtesten lebenden Künstler" gemacht haben, ermöglichen die Memoiren einen Blick in Chinas wechselvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht dabei das Martyrium seines Vaters, das 150 Seiten von Ais Buch einnimmt.

20 Jahre Gefangenschaft und Arbeitslager

Ai Weiweis Vater Ai Qing wird als einer der größten Lyriker Chinas geachtet. Der Titel von Ai Weiweis Memoiren ist einem der Gedichte Ai Qings entlehnt: "Von tausend Jahren Freud und Leid blieb keine Spur zurück." Kurz nach der Geburt von Ai Weiweis Vater im Jahr 1910 sagte eine Wahrsagerin voraus, dass das Kind seiner Familie Unglück bringen werde. Also wurde Ai Qing von einer Bauernfamilie großgezogen, die laut Ai Weiweis Recherchen ihre eigene, etwa gleich alte Tochter, ertränkte, um das Baby aus gutem Hause bei sich aufnehmen zu können.

Obwohl der Aberglaube zu jener Zeit in China einflussreicher war als die Wissenschaft, wurden Studierende bereits ins Ausland geschickt, um im Westen zu lernen. In Paris, wo Ai Weiweis Vater zwischen 1929 und 1932 lebte, entdeckte dieser Kunst, Philosophie und Literatur für sich. Er studierte Werke, die den weiteren Verlauf seines Lebens verändern sollten. Kurz nach seiner Rückkehr nach China wurde er festgenommen und für drei Jahre eingesperrt - wegen seiner Mitgliedschaft in einer linksgerichteten Organisation, die sich gegen die Nationale Volkspartei Chinas wandte. 1957, im Geburtsjahr seines Sohnes, wurde Ai Qing schließlich unter Mao als "rechtsgerichtet" denunziert und mit seiner Familie in einem Arbeitslager interniert.

Ai Qing war eine Zeitlang sogar ein Vertrauter von Mao Zedong, der im Jahr 1949 die Gründung der Volksrepublik China verkündeteBild: picture-alliance/dpa/EPA/AFP

Während Maos "Kulturrevolution"wütete, wuchs der Druck auf Ai Qing. Obwohl er alle seine Bücher verbannt hatte, wurde er für die "Verbreitung bürgerlicher Literatur" verurteilt und 1967 mit seinen beiden Söhnen in den Nordwesten Chinas gebracht, wo er öffentliche Toiletten reinigen musste. Seit er zehn Jahre alt war, lebte Ai Weiwei mit seinem Vater in einem unterirdischen Verschlag. In seinen Memoiren beschreibt er äußerst bildhaft diese Wohnhöhle, in der es von Ratten und Läusen wimmelte.

Trotz der widrigen Lebensumstände erinnert sich Ai an ein "Gefühl von Sicherheit", das paradoxerweise diese Isolation von der Außenwelt bei ihm ausgelöst hatte: "Die Entfremdung und Feindseligkeit, mit denen uns die Menschen begegneten, ließen in mir ein klares Bewusstsein entstehen, wer ich war", ist in seiner Autobiografie zu lesen.

Schriftsteller Daniel Kehlmann (l.) mit Künstler Ai Weiwei (m.) anlässlich der Buchveröffentlichung im Berliner EnsembleBild: Elizabeth Grenier/DW

Auf die Frage aus dem Publikum, wie er es geschafft habe, die Erniedrigungen und die ständige Verfolgung seines Vaters zu ertragen, antwortete Ai Weiwei, dass er vermutlich "zu dumm" und "unsensibel" gewesen sei, um zu bemerken, wie sehr er wirklich gelitten habe. Nach Maos Tod kehrte die Familie im Jahr 1976 nach Peking zurück.

Eintauchen in die New Yorker Kunstszene

Nach politischer und wirtschaftlicher Reform in China in den 1980er-Jahren gehörte Ai Weiwei zur ersten Generation chinesischer Studenten, die wieder ins Ausland reisen durften. In New York traf er 1984 auf den Beat-Poeten Allen Ginsberg - ausgerechnet an jenem Abend, als dieser sein Gedicht über "revolutionäre Dichter" vortrug, die ausgesandt wurden, um "in der Provinz Xinjiang Scheiße zu schippen". Einer von ihnen war Ai Weiweis Vater.

Während er die Werke von Andy Warhol und Marcel Duchamp entdeckte, musste sich Ai Weiwei gleichzeitig mit einer völlig andersartigen Kultur auseinandersetzen.

Dem begegnete er mit einer Mischung aus Arroganz und Selbstironie. Schon bei seiner Ankunft in den USA habe er geglaubt, ein "neuer Picasso" zu werden.

Seine Mutter sorgte dafür, dass er bodenständig blieb: "Meine Mutter glaubt immer noch nicht, dass ich ein erfolgreicher Künstler bin. Da er dem Urteilsvermögen seiner Mutter vertraue, tendiere er dazu, die Kunstwelt nicht zu ernst zu nehmen.

So wurde Ai zum "gefährlichsten Künstler" Chinas

Ai wurde dank seiner provokativen Werke schnell so berühmt wie berüchtigt, zum Beispiel, als er im Jahr 1995 eine kostbare Urne aus der Han-Dynastie zerschmetterte, deren Wert auf eine Million Dollar beziffert wurde.

Einen Wendepunkt erreichte seine Karriere jedoch nach dem Erdbeben in Sichuan im Jahr 2008, bei dem rund 80.000 Menschen starben. Die vom Staat erbauten Schulen hätten laut offiziellen Angaben erdbebenfest sein müssen, was aber nicht der Fall war, so dass die Schülerinnen und Schüler keine Chance hatten, zu überleben. Aber die chinesischen Regierung verhinderte, dass Informationen an die Öffentlichkeit drangen. Ai startete eigene Recherchen und begann daraufhin, auf seinem Blog die 5.219 Namen der getöteten Kinder zu veröffentlichen.

Dieses Projekt, das den Titel "Remembering" (deutsch: "Erinnern") trug, führte dazu, dass Ai Weiwei fortan menschliche Schicksale in seiner Kunst verarbeiten wollte. Das machte ihn zugleich zu einem "gefährlichen" Dissidenten. Jahrelang wurde er vom chinesischen Geheimdienst verfolgt. 2011 entführte ihn die Polizei und inhaftierte ihn für 81 Tage.

Ai Weiwei stellte mit Hilfe von Selfies seine Verfolger bloßBild: DW/S. Peschel

Nach seiner Entlassung wurde sein Reisepass beschlagnahmt und Ai unter Hausarrest gestellt - vier Jahre lang. Erst im Jahr 2015 gelang ihm die Ausreise aus China und der Umzug nach Berlin.

Freiheit kann man überall finden

Daniel Kehlmann bat den Künstler um einen Rat, wie sich die persönliche Freiheit auch unter den Bedingungen der Gefangenschaft bewahren ließe, auch in Hinsicht auf die Pandemie, in der sich sehr viele Menschen ebenfalls gefangen fühlten.

Freiheit bedeute, durch Beobachtung Wege zu finden, kreativ zu sein, antwortete Ai, und fügte hinzu: "Dazu braucht man nicht die ganze Welt".

Als Beispiel nannte er seine Zeit in Haft: Die sei auch eine Schulung seiner Vorstellungskraft gewesen, einfach dadurch, dass er zwei junge Soldaten beobachtet habe, die ihn bewachten. Er habe sich ausgemalt, wo sie herkämen, wie ihre Leben aussähen und was sie dazu brachte, die Befehle der Regierung kommentarlos auszuführen. Wenn er noch länger inhaftiert gewesen wäre, sagte Ai, wäre aus ihm noch ein Schriftsteller geworden.

So eindrucksvoll, wie er diese Beobachtungen in seinen Memoiren zu Papier bringt, lässt sich feststellen: Es ist ihm bereits gelungen.

Adaptiert von Philipp Jedicke und Christine Lehnen

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