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Politik

Ai Weiwei: "Keine Fragen beantwortet"

Jun Yan
12. Mai 2018

Das schwere Erdbeben in China vor zehn Jahren habe das Leben vieler Familien verändert, aber nicht das Land, kritisiert der Künstler Ai Weiwei im DW-Interview. Beim Beben in Wenchuan 2008 kamen 70.000 Menschen ums Leben.

China BG 10 Jahre Erdbeben Sichuan
Bild: Reuters/J. Lee

Deutsche Welle: Herr Ai Weiwei, am Samstag jährt sich das schwere Erdbeben in China zum zehnten Mal. Was empfinden Sie an diesem Tag?

Ai Weiwei: Das Erdbeben vor zehn Jahren in Wenchuan mit ca. 70.000 Opfern war eine Naturkatastrophe. Die entstandenen Schäden und die sich daraus abgeleiteten Folgen sind aber etwas, was für China typisch ist. Wer waren die Opfer? Wie kamen sie ums Leben? Warum mussten sie sterben?

Wie hoch wäre denn der Anteil der Toten, die wegen menschlichen Versagens sterben mussten, oder infolge von Untätigkeit und Fehlern der Regierung? Diese Fragen wurden bislang nie beantwortet.

Nach jeder Katastrophe in China werden die Rettungsaktionen in einem geschlossen Raum, ja sogar unter Geheimhaltung, organisiert. Eine transparente Aufklärung gibt es nicht. Die erste Frage, die im Rahmen der Aufklärung beantwortet werden muss, wäre, wie die Regierung Naturkatastrophen vorbeugen und deren Schäden begrenzen kann und wer für welches Versagen zur Konsequenz gezogen wird. Falls wir nach so einem großen Verlust an Menschenleben nicht etwas Grundsätzliches abstrahieren, hätten wir die Lehre nicht gezogen. Solche Katastrophen passieren immer wieder.

Sie waren ja selbst Opfer brutaler Polizeigewalt bei der Recherche nach dem Erdbeben...

Im Zusammenhang mit unseren Ermittlungen und den Streitigkeiten mit den Verwaltungen nach dem Erdbeben haben wir in unseren Blogs die Untersuchungsberichte freiwilliger Ermittler, die Anträge auf Akteneinsicht bei den Behörden sowie die Krankenakte nach der Attacke gegen mich, bei der ich eine Gehirnblutung erlitt, veröffentlicht. Mit all diesen Anstrengungen suchen wir Antworten auf eine Frage: Was ist passiert?

Die Suche nach der Wahrheit ist in China ein gefährliches Unterfangen. Die Regierung ist die einzige real existierende Wahrheit. Sie ist nicht so transparent, dass sämtliche Vorgänge rekonstruiert werden können, geschweige eine öffentliche Debatte drüber zustande kommt. Die Wahrheit ist vom Entscheidungsträger abhängig, vom "Geist" irgendwelcher Dokumente der Parteizentrale. Diese Tatsache geht bei Weitem über die Wahrheit und über das Menschenleben hinaus. Die Frage nach dem Erdbeben in Wenchuan bleibt: Was ist passiert?

Wann waren Sie zum letzten Mal im Erdbebengebiet?

Ich war ein einziges Mal mitten drin im Erdbebengebiet und stand vor den Trümmern. Das war kurz nach dem Erdbeben. Die Rettungsaktionen waren schon abgeschlossen. Das gesamte Areal war noch zum Teil gesperrt. Viele Leichen konnten noch nicht geborgen werden, die meisten geborgenen Leichen wurden schnell vor Ort begraben, bevor sie die Familien identifizieren konnten. Mein Eindruck ist, er herrschte Chaos. Die Koordination der Regierung war nicht effizient.

Der Künstler Ai Weiwei in seinem Atelier im Prenzlauer Berg in BerlinBild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Welche Fragen von Ihnen sind noch nicht beantwortet worden?

Bis heute ist keine unserer Fragen beantwortet worden. Wie zum Beispiel: Wer waren die Opfer? Was war die Ursache für die schweren Folgen der Katastrophe? Wie effizient haben die Regierungsapparate die Rettungsaktionen durchgeführt, Polizei, Militär, Katastrophenschutz? Warum sind Schulgebäude eingestürzt? Gab es Pfusch beim Bau? Sind die Ansprüche und Forderungen der Opferfamilien ausreichend berücksichtigt? Viele Familien wurden eingeschüchtert, da sie in den Augen der Regierung die Stabilität gefährden könnten.

Die Regierung plant eine große Gedenkfeier. Ist das der richtige Weg, der Toten zu gedenken?

Das effektive Gedenken ist, Leben zu respektieren und nicht zu vergessen. Respekt vor Leben bedeutet, dass der Wert von Leben und Ableben gleich ist. Wir müssen wissen, warum sie sterben mussten? Was oder wer war dafür verantwortlich. Falls dies nicht geschieht, ist alles andere Unsinn.

Nicht vergessen bedeutet, dass wir klare Antworten auf jede Katastrophe in der jüngsten Geschichte Chinas liefern müssen, egal wie sie entstanden, sei es politische motiviert oder menschliches Versagen. Die Opfer nach Naturkatastrophen oder die Verfolgten haben Anspruch auf die Antwort. Eine legitime Regierung, eine legitime politische Partei muss in der Lage sein, solche Antworten zu liefern.

Wie hat sich China in den letzten zehn Jahren verändert?

China hat sich nicht substanziell verändert. Die Menschen sind zum Teil wohlhabender, aber das allgemeine Verständnis über Gerechtigkeit hat sich nicht verändert. Die Bürger sind immer noch nicht Teil der Gesellschaft. Als autoritär regiertes Land setzt die Regierung das unmenschliche Prinzip in der öffentlichen Realität um. Die Bürger leben lediglich und alternativlos diese Realität. Von dieser Perspektive ist China das alte geblieben.

 

Ai Weiwei ist ein chinesischer Künstler und führt sein Atelier in Berlin.

Das Interview führte Yan Jun.

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