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Auschwitz-Verbrechen vor Gericht

Volker Wagener19. August 2015

Mitten in den Wirtschaftswunderjahren mussten sich die Westdeutschen ihrer Vergangenheit stellen: Vor 50 Jahren fielen die Urteile im Frankfurter Auschwitz-Prozess. Eine Zäsur für Opfer, Täter und Öffentlichkeit.

Auschwitzprozess in Frankfurt am Main: Gerichtssaal - Foto: United Archives (Imago)
Bild: imago/United Archives

Die Antwort sorgte für Empörung auf den Zuschauerrängen. Wilhelm Boger, zuständig für "Verhöre" bei der Politischen Abteilung in Auschwitz, wurde vom Gericht mit der von ihm erfundenen "Boger-Schaukel" konfrontiert. Dabei wurden dem Opfer unter den angezogenen Beinen die Handgelenke gefesselt, anschließend eine Eisenstange zwischen Hände und Kniekehlen geschoben und die beiden Stangenenden dann auf zwei gegenüber stehende Tische gelegt. Der so Gequälte hing mit dem Kopf nach unten, Gesäß und Geschlechtsteile ungeschützt den brutalen Schlägen ausgesetzt. "Ich habe nicht totgeschlagen", erklärte Boger dem Gericht, "ich habe Befehle ausgeführt."

Angeklagter Boger: "Ich habe nur Befehle ausgeführt!"Bild: imago/United Archives

Bogers Einlassung war symptomatisch für alle Angeklagten: Von Reue keine Spur. So machte der Frankfurter Auschwitz-Prozess erstmals nach 1945 das ganze Grauen öffentlich.

Auschwitz, Synonym für den Holocaust

Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 das Lager nahe Krakau im heutigen Polen erreichte, zählte sie noch rund 7000 Gefangene in dem KZ. Von den zuletzt 60.000 Insassen waren die meisten kurz zuvor von der SS erschossen oder aber auf sogenannte Todesmärsche Richtung Westen getrieben worden. 1,1 Millionen Menschen wurden in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern zwischen 1940 und 1945 umgebracht: vergast, totgespritzt, erschossen, erschlagen. Alles fein säuberlich dokumentiert.

Nach dem Krieg waren diese Verbrechen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit fast 20 Jahre Tabu. Vor allem für die Justiz. Das Motto lautete: "Das Vergangene soll ruhen!" Der Geist der Adenauer-Ära - also der Regierungszeit des ersten Bundeskanzlers von 1949 bis 1963 - war geprägt von weitverbreiteter Amnesie oder aktivem Entnazifizierungseifer.

An der Rampe: Neue KZ-Häftlinge erreichen AuschwitzBild: AP

Dass es den großen Auschwitz-Prozess überhaupt geben konnte, ist dem Zufall geschuldet. Ein Journalist lernte während einer Recherche Ende 1958 einen ehemaligen KZ-Häftling kennen, der während der letzten Kriegsmonate im brennenden Breslau einige vom Feuer schon angekohlte Dokumente aus dem Polizeigericht mitnahm. Diese überließ er dem Journalisten, der sie an den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer schickte.

Und der erkannte sofort die Brisanz des Zufallsfundes: Unterlagen über Erschießungen in Auschwitz. Samt Namen der Ermordeten, ihrer Mörder und dem vermerkten Grund der Hinrichtung. Unterzeichner war Rudolf Höß, der Lagerkommandant. Und auch die Paraphe von Robert Mulka war klar auszumachen, einem der späteren Angeklagten in Frankfurt. Die Grundlagen für einen Großprozess, für ein Strafverfahren gegen mehrere Personen in verschiedenen Funktionen waren endlich gegeben. Und damit die Möglichkeit, die gesamte Vernichtungsmaschinerie als System erkennbar zu machen.

Fritz Bauer, der Vater des Prozesses

Im April 1959 erklärte der Bundesgerichtshof das Landgericht Frankfurt am Main und Fritz Bauer für alle Auschwitz-Prozesse zuständig. Als Jude und Sozialdemokrat in der NS-Zeit selbst inhaftiert, konnte Bauer sich nach der Haft ins Ausland absetzen.

Der Vater der Auschwitz-Prozesse: Fritz Bauer, hessischer GeneralstaatsanwaltBild: picture alliance/Manfred Rehm

Nach Kriegsende wurde er zum entschlossensten Verfolger von Kriegsverbrechern - nicht aus Rache, sondern um die Vergangenheit dem Verdrängen zu entreißen. Er galt darum weiten Teilen der Politik und Justiz als Nestbeschmutzer. Im Prozess selbst trat er nie in Erscheinung, aber er hatte das Verfahren nach Frankfurt geholt und gab seinen Staatsanwälten als Chef der Anklagebehörde Rückendeckung. Was nicht selbstverständlich war, denn Bauer war einer der wenigen unbelasteten Juristen in der frühen bundesdeutschen Justiz und fühlte sich zu Recht allein auf weiter Flur. "Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse", beschrieb er einmal seine Situation, "betrete ich feindliches Ausland!"

Der Frankfurter Prozess konnte auch deshalb 1963 beginnen, weil 1958 die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg eingerichtet worden war. Bis dahin waren Kriegsverbrecher nur unsystematisch und unkoordiniert verfolgt worden. Auch aussagewillige Zeugen zu finden, bereitete der Anklage Sorgen. Viele ehemalige KZ-Insassen, die den Holocaust überlebt hatten, wollten nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden setzen. Es dauerte, bis aus jedem Land, aus dem Juden deportiert worden waren, mindestens ein Zeuge überzeugt werden konnte, nach Frankfurt zu kommen.

Zeugnisse des Grauens

Die Prozesseröffnung am 20. Dezember 1963 konfrontierte die Deutschen 18 Jahre nach Kriegsende mit etwas, das viele gar nicht mehr wissen wollten. Es war kurz vor Weihnachten und die wieder wohlgenährten Bürger des Wirtschaftswunderlandes mochten sich nicht mit den Nazi-Verbrechen beschäftigen. Die Frankfurter erledigten ihre Weihnachtseinkäufe, als der Römer, das Rathaus im Stadtzentrum, zum Schauplatz des Jahrhundertprozesses wurde.

20. Dezember 1963: Eröffnung des Frankfurter Auschwitz-Prozesses gegen 22 AngeklagteBild: imago/United Archives

Dort wurde das Aktenzeichen 4 Ks 2/63, Strafsache gegen Mulka und andere aufgerufen. Robert Mulka, Adjutant des Lagerkommandanten von Auschwitz, war der älteste der 22 Angeklagten und somit Namensgeber des Verfahrens. Verhandelt wurde an insgesamt 183 Tagen, 20 Monate lang. Grundlage des Prozesses: die 700 Seiten dicke Anklageschrift. Dazu übergab die Staatsanwaltschaft dem Gericht 75 Aktenbände. Darunter Totenbücher und die Aufzeichnungen der Kommandantur über den Funkverkehr der Lager. Alles zusammengetragen in fünfjähriger Vorermittlung.

359 Zeugen wurden in Frankfurt gehört, davon 248 ehemalige Auschwitz-Häftlinge. Und das Gericht fuhr nach Polen und nahm das ehemalige Lager Auschwitz in Augenschein. Politisch zu dieser Zeit fast ein Unding, weil Europa in Ost und West geteilt war, doch das Internationale Auschwitz-Komitee machte es möglich und vermittelte bei der Warschauer Regierung. So konnten Aussagen einiger Angeklagter widerlegt werden, die behauptet hatten, von ihrem Büro- oder Arbeitsplatz aus nichts von den Morden mitbekommen zu haben.

Das späte Urteil

Als am 19. August 1965 das Gericht mit der Urteilsverkündung begann, war jeder Besucherstuhl besetzt. Rund 20.000 Prozessbeobachter waren in den zurückliegenden 20 Monaten gekommen. Besonders groß war das Interesse im Ausland. Was der inzwischen verstorbene Jurist, Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Ralph Giordano die "zweite Schuld" nannte, das jahrzehntelange Versagen der (west)deutschen Justiz beim juristischen Umgang mit der eigenen Vergangenheit, wurde mit den Frankfurter Auschwitz-Urteilen zumindest etwas korrigiert.

Mit dem Zug in den Tod. Rund 1,1 Millionen Menschen wurden in den Lagern getötetBild: Getty Images/C. Furlong

Gegen die Hauptangeklagten verhängte das Gericht lange, teilweise auch lebenslange Haftstrafen. Und es hielt ausdrücklich fest, dass auch nach nationalsozialistischem Recht die Taten strafbar gewesen waren.

Nach dem Frankfurter Urteil erlahmte der Ermittlungseifer der deutschen Justiz gegenüber NS-Verbrechern wieder merklich. Von 6500 SS-Leuten in Auschwitz wurden ganze 29 verurteilt, hat der Historiker Andreas Eichmüller errechnet. Und: Es dauerte noch 40 Jahre, bis die sogenannte "Auschwitz-Lüge" - die Behauptung, in dem Vernichtungslager seien keine Menschen ermordet worden oder weit weniger, als historisch nachgewiesen - auch strafrechtlich verfolgt wurde. Seit April 2005 gilt dafür der Straftatbestand der Volksverhetzung.

Eine kommentierte Quellenedition hat das Frankfurter Fritz-Bauer-Institut 2013 unter dem Titel "Der Frankfurter Auschwitz-Prozess" herausgegeben.

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