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Solidarität mit den Kölner NSU-Opfern

Andrea Grunau21. Januar 2015

Als in der Kölner Keupstraße eine Nagelbombe detonierte, wurden Verletzte als Täter verdächtigt. Zehn Jahre später sagen sie im NSU-Prozess aus. Diesmal waren sie nicht allein, berichtet Andrea Grunau aus München.

Transparent für eine Gesellschaft ohne Rassismus in München (Foto: DW/A. Grunau)
Bild: DW/A. Grunau

Kemal, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, war am 9. Juni 2004 beim Frisör, um sich rasieren zu lassen. Direkt hinter der Schaufensterscheibe explodierte die Nagelbombe, die auf einem Fahrrad montiert war. Kemal wurde von zahlreichen Glassplittern verletzt, am Kopf, am Rücken, an der Schulter. "Wir dachten, wir sterben", berichtet er und sagt dann, er könne gar nicht beschreiben wie sich das anfühle, einen solchen Anschlag zu erleben. Danach sei "nichts mehr so gewesen wie vorher". Er war lange krank geschrieben, verlor seine Arbeit, war isoliert. Kemal spricht mittags auf der Pressekonferenz der Initiative "Keupstraße ist überall", die zum Aktionstag in München aufgerufen hat, um die Betroffenen beim NSU-Prozess nicht allein zu lassen. Am Abend zieht Kemal an der Spitze der Demonstration "Für eine Gesellschaft ohne Rassismus" durch die Innenstadt von München.

Auch Muzaffer Türkoglu ist dabei, obwohl er gerade erst eine Herzoperation überstanden hat. Der 71-Jährige Berliner beteiligt sich schon den ganzen Dienstag über an der Dauerkundgebung vor dem Oberlandesgericht, in dem der Kölner Nagelbombenanschlag verhandelt wird. Damals hat er mit seinem Bruder aus Istanbul den Kölner Dom besucht, dann waren sie in der Keupstraße essen. Als sie zum Auto gingen, explodierte einige Meter entfernt die Nagelbombe. Muzaffer Türkoglu leidet bis heute unter den traumatischen Folgen des Anschlags, er ist noch immer in Therapie. Seine Ehe zerbrach, berichtet er, weil er nachts immer laut schreiend aufwachte: "Meine Frau hatte Angst vor mir." Nach wie vor kann er Feuerwerke wie an Silvester nicht ertragen, denkt immer, er müsse in Deckung gehen. Manchmal, sagt er, hat er wieder den Geruch in der Nase, von dem Anschlag in der Keupstraße.

Der Berliner Muzaffer Türkoglu leidet bis heute unter den Folgen des BombenanschlagsBild: DW/A. Grunau

Solidarität aus vielen Städten

Hunderte Teilnehmer eines Aktionsbündnisses sind für diesen Tag nach München gereist, um die Betroffenen des Keupstraßen-Anschlags in den schweren Tagen ihrer Zeugenaussagen zu unterstützen. Sie kamen frühmorgens aus Köln, aber auch aus den Städten der NSU-Morde: aus Kassel, Nürnberg, München. Auch in anderen Orten gab es Kundgebungen und Solidaritätsaktionen.

Das Aktionsbündnis protestierte in München gegen die Theorie von "Einzeltätern" und gegen das Aktenschreddern beim Verfassungsschutz nach dem Tod von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos im November 2011, als Unterlagen über die rechtsextreme Szene und V-Leute des Verfassungsschutzes zerstört wurden. 2011 verhöhnte das Bekennervideo des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) auch die Opfer des Nagelbombenanschlags unter der Überschrift "Bombenstimmung in der Keupstraße". Bis dahin galten viele NSU-Opfer als Hauptverdächtige.

Die Kritik der Demonstranten in München richtete sich gegen Verfassungsschutz und PolizeiBild: picture-alliance/dpa/T. Hase

"Jetzt bin ich Zeuge"

Während die zehn Morde und die zwei Bombenanschläge in Köln, die man heute dem NSU zuordnet, die migrantische Community schockierten, sagt Vanessa Höse von der Initiative "Keupstraße ist überall", sei die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland den Aussagen der Ermittler und Politiker vom "kriminellen Milieu" gefolgt. Jahrelang war alles "verkehrt" erinnert sich Muzaffer Türkoglu. Sein Bruder, Offizier und beruflich mit Chemikalien vertraut, und er selbst, tätig in der Security-Branche, waren zwar Opfer, galten aber sofort als äußerst verdächtig. Als sie zurück nach Berlin kamen, erinnert er sich, "standen frühmorgens in meiner Straße mindestens acht Polizeiwagen", 20 Polizisten hätten seine Wohnung untersucht. "Jetzt bin ich Zeuge", sagt er, und "diese Frau, wie heißt sie?", stehe unter Mordverdacht.

Beate Zschäpe ist die Hauptangeklagte im NSU-Prozess, doch die Demonstranten in München fordern immer wieder, auch alle Hintergründe und staatlichen Verstrickungen aufzuklären, das könne der Prozess allein nicht lösen. Außerdem müsse der Kampf gegen Rassismus verstärkt werden. Als in Köln vor wenigen Tagen an den Bombenanschlag in der Probsteigasse erinnert wurde, berichtet Vanessa Höse, seien auch 50 bewaffnete Neonazis erschienen. Die Polizei habe sie eingekreist.

Am Aktionstag in München sind Mehrheitsgesellschaft und migrantische Community zusammen gerückt, sie rufen auf Deutsch und Türkisch. Als die Demonstranten am Hauptbahnhof München vorbeiziehen, geht es durch ein Viertel mit ähnlich lebendigem Geschäftsleben wie in der Kölner Keupstraße. Hinter dem Schaufenster eines türkischen Frisörs sitzt ein Kunde und wird rasiert. So ähnlich muss Kemal vor mehr als zehn Jahren im Salon in der Keupstraße gesessen haben, als die Täter das Fahrrad mit der Nagelbombe abstellten. Muzaffer Türkoglu zieht ein sehr bitteres Resümee: Sterben wäre für ihn vielleicht der leichtere Weg gewesen, sagt er, als dieses Leben nach dem Anschlag.

Der Kunde eines Frisörsalons blickt auf die Anti-Rassismus-Demonstration in MünchenBild: DW/A. Grunau
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