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"Flüchtlinge wollen nicht in die Türkei"

Maike Verlaat5. April 2016

Auf der Insel Chios befindet sich einer der fünf Hotspots in Griechenland. Flüchtlinge werden hier bis zur Rückführung in die Türkei untergebracht. Der Aktivist Benjamin Julian hat mit vielen von ihnen gesprochen.

Flüchtlinge an einer Mole in Chios (Foto: Benjamin Julian)
Bild: Benjamin Julian

DW: Wie ist Ihre Einschätzung der Situation der Gefangenen, die am vergangenen Freitag auch zum Teil aus dem Lager ausgebrochen sind?

Benjamin Julian: Die Flüchtlinge wurden auf Chios lange in offenen Lagern untergebracht. Dieses System schien gut zu funktionieren. Nachdem der EU-Türkei-Deal beschlossen wurde und damit die geschlossenen Camps eingerichtet wurden, ist die Stimmung gekippt. Das liegt nicht nur an der Tatsache, dass die Leute jetzt eingesperrt sind, sondern auch daran, dass ihnen bei der Ankunft gesagt wird, dass sie gleich wieder abgeschoben werden. Die Flüchtlinge wissen genau, dass eine Million Menschen letztes Jahr in die EU gekommen sind, und jetzt sollen sie die erste Gruppe sein, die nicht einreisen darf. Das trifft natürlich auf Unverständnis.

Die Solidaritätsgruppen haben dann am vergangenen Donnerstag zu einem Protest aufgerufen. Während draußen protestiert wurde, gab es im Lager selbst auch Demonstrationen. Die Menschen sind also während der Proteste ausgebrochen. Sie sind zwar wieder hineingegangen, wollten dann aber wieder ausbrechen, um die Missbilligung über diese erniedrigenden Zustände auszudrücken. Außerdem fühlen sie sich überlegen, da die Wärter offenbar nicht in der Lage sind, sie unter Kontrolle zu halten.

Sie haben mit vielen Menschen gesprochen. Wollen diese überhaupt in die Türkei?

Die Türkei ist das letzte Land, in das die Flüchtlinge möchten. Die meisten möchten nach Nordeuropa. Ein paar würden den Verbleib in Griechenland vorziehen, aber für die Mehrheit sind beide Länder keine Option. Das ist wirklich tragisch, da das die zwei Optionen sind, die Europa ihnen gibt. [Inzwischen ist bekannt, dass viele der Flüchtlinge Asyl in Griechenland beantragt haben. Anm. d. Red.]

Wie verlief das Asyl-Verfahren Ihrer Einschätzung nach bislang?

Die ganze Asyl-Geschichte war von Anfang an ein Desaster. Zunächst wusste die Polizei überhaupt nicht, was sie mit den Asyl-Anträgen anfangen sollten. Nach ein paar Tagen haben sie gesagt, dass es ein Verfahren geben wird und sie sich in eine vorläufige Liste eintragen können. Doch es traten viele Probleme auf. Es war genau das Fiasko, das alle erwartet hatten. Das passiert, wenn du innerhalb von zwei Tagen eine Revolution im Asyl-System durchführen willst. Es ist einfach nicht machbar. Leute haben Asyl beantragt und sie sollten ein offizielles Gespräch bekommen, aber ich bin mir nicht sicher, ob überhaupt schon jemand eins hatte.

Deutlicher Protest gegen die Rückführung in die TürkeiBild: imago/ZUMA Press

Ein Flüchtling im Gefängnislager hat mir am Montag erzählt, dass unter den abtransportierten Flüchtlingen auch Menschen waren, die Asyl beantragt, aber kein Gespräch bekommen haben. Ich kann das nicht bestätigen, aber für mich klingt das danach, dass das Dilemma noch nicht vorbei ist. Es gibt noch immer kein effektives Verfahren zur Bearbeitung der Asylanträge.

Wie schwierig ist es, sich mit Menschen über den Zaun hinweg zu unterhalten?

Es ist schwer, da die Polizei es nicht erlaubt. Wenn du erwischt wirst, riskierst du einen stundenlangen Aufenthalt auf der Polizeistation. Ich hab es ein paar Mal geschafft.

Was sagen die Flüchtlinge zur Essens- und Hygienesituation im Lager?

Aktivist Benjamin Julian setzt sich für Flüchtlinge einBild: privat

Es ist schlimm, aber es ist definitiv nicht das, was die Leute am meisten stört. Die Menschen frustriert am meisten, dass sie erniedrigt und unfair behandelt werden, dass ihre Rechte verletzt werden und dass sie bald abgeschoben werden. Sie protestieren vor allem, weil sie weitergelassen werden wollen.

Wie lange bleiben Sie noch auf Chios?

Ich werde noch ein paar Tage bleiben, aber dann gehe ich wahrscheinlich in die Türkei, um zu sehen, wie die Dinge auf der anderen Seite laufen werden. Ich war vorher auch dort, aber jetzt bin ich gespannt, was als nächstes passiert. Soweit ich weiß, gibt es noch keine geeignete Empfangsstelle für die Flüchtlinge. Die wird gerade noch aufgebaut.

Benjamin Julian ist ein isländischer Aktivist und Autor des Blogs "On the Refugee Trail". Nachdem er unter anderem in einer Suppenküche ausgeholfen hat, konzentriert er sich auf Informationsaktivismus.

Das Gespräch führte Maike Verlaat.

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