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Wie geht unser Körper mit Hunger um?

Clare Roth | Brigitte Osterath
5. März 2024

Über 700 Millionen Menschen sind weltweit von Hunger bedroht. In Gaza ist die Lage zurzeit besonders schlimm. Es trifft vor allem Kinder. Aber unser Körper ist aufs Überleben programmiert.

Kinder warten auf Essen und halten Gefäße hoch
Vor allem Kranken, Schwachen und Kindern setzt extremer Hunger besonders schwer zuBild: Abed Zagout/Anadolu/picture alliance

Im Gazastreifen herrscht eine Hungersnot. Der Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, sprach von "schwerer Unterernährung", die zum Tod von bisher zehn Kindern geführt habe. Das von der Hamas geführte Gesundheitsministerium spricht von mindestens 15 Kindern die an Unterernährung und Dehydrierung gestorben seien.

Im nördlichen Gazastreifen leben schätzungsweise 300.000 Menschen ohne ausreichend Nahrungsmittel und sauberes Wasser. 

Der Körper ist aufs Überleben programmiert

Langanhaltender Hunger ist eine extreme Belastung für unseren Körper. Doch die Evolution hat den menschlichen Körper darauf trainiert, zur Not wochenlang ohne Nahrung auszukommen. Menschen, die gesund sind und genügend Wasser haben, können bis zu drei Monate ohne Essen auskommen.

Aber das funktioniert nicht bei jedem. Wenn noch andere Faktoren wie Krankheiten hinzukommen, die das Immunsystem zusätzlich schwächen, stehen die Überlebenschancen eines Menschen schlecht.

Das Gehirn kennt die Tricks  

Eine zentrale Rolle spielt das Hungerzentrum im Hypothalamus. Die Stoffwechsel-Zentrale im Gehirn wird aktiv, sobald der Blutzuckerspiel fällt. Als erste Maßnahme sorgt dieser Teil des Gehirns dafür, dass die Nebenniere das Stresshormon Adrenalin ausschüttet. So kann der Mensch alle Kräfte mobilisieren, um erfolgreich auf Nahrungssuche zu gehen. Wird keine Nahrung zugeführt, greift das Gehirn zu Plan B. 

Um zu funktionieren, braucht das Gehirn Traubenzucker, also Glucose. Obwohl das Gehirn nur zwei Prozent der Körpermasse eines Menschen ausmacht, beansprucht es etwa die Hälfte des Glucoseverbrauchs im Körper. Also sichert sich das Gehirn durch einen Trick die gesamten Glucosevorräte.

Das geht so: Ohne Insulin kann Glucose nicht in die Muskeln gelangen. Also gibt das Gehirn das Signal, die Insulinausschüttung zu stoppen. Resultat: Die Muskeln gehen leer aus. Das Gehirn steuert den Stoffwechsel so, dass es selbst überlebt.

Jedes Organ schrumpft während starken Hungers auf etwa die Hälfte seines ursprünglichen Gewichts, bis der Tod eintritt. Nicht so das Gehirn: Es nimmt maximal um zwei bis vier Prozent ab. Kein Wunder, wenn das Gehirn sich die Glucosereserven exklusiv sichert. 

Dauert der Nahrungsentzug weiter an, greift der Körper auf Eiweiß zur Energiegewinnung zurück. Auch diese Maßnahme geht zu Lasten der Muskeln, die zu einem großen Teil aus Eiweiß bestehen. Der Körper kann nämlich aus kleingehackten Eiweißen, den Aminosäuren, Traubenzucker herstellen.

Warum man Hunger riechen kann

Nach acht bis zehn Tagen stellt der Körper seinen Stoffwechsel auf eine Art Energiesparprogramm um: Wesentliche Aktivitäten laufen auf Sparflamme: Herzfrequenz, Blutdruck und Körpertemperatur sinken - ähnlich wie bei einem Tier in Winterschlaf. Bei geringem Nahrungsangebot ist es das Beste, was der Körper machen kann.

Außerdem zapft der Körper seine Fettreserven an. Dazu baut er Fettsäuren zu sogenannten Ketonkörpern um. Diese Ketonkörper sind eine äußerst wichtige Energiequelle und machen das Überleben in Hungerzeiten überhaupt erst möglich, denn sie sind die einzigen Verbindungen, die das Gehirn neben Glucose überhaupt verwerten kann.

Den Umstand, dass der Stoffwechsel eines Hungernden auf die Fettdepots zurückgreift, kann man mitunter sogar riechen. Denn zu den Ketonkörpern, die über die Niere und die Atemluft ausgeschieden werden, gehört auch Aceton mit seinem charakteristischen Nagellack-Geruch.

Je länger der Hunger dauert, umso mehr negative Folgen treten auf: Die Barrierefunktion der Haut lässt nach, das Immunsystem wird schwächer, Entzündungen machen sich breit.

Wenn die Organe versagen

Nach und nach zieht der Körper aus allen lebenswichtigen Organen Gehirnnahrung. Und nach einer Weile besteht der Mensch nur noch aus Haut und Knochen. Die Organe beginnen zu versagen. Das Herz gibt oft als erstes auf. 

Ein Mensch kann Hunger nur dann über längere Zeit überleben, wenn sich der Stoffwechsel - wie oben beschrieben - so umstellt, dass das Gehirn mit weniger Glukose auskommt. Das macht es möglich, die Eiweißreserven in den lebenswichtigen Organen zu erhalten. Damit all dies reibungslos funktioniert, muss der Körper ein erstes Hungersignal geben. Dieses stoppt die Insulinausschüttung. Das aber klappt nicht immer. 

Leidet jemand beispielsweise an Malaria, an AIDS oder anderen Krankheiten, hat er so viele Entzündungsstoffe im Blut, dass die Bauchspeicheldrüse weiterhin Insulin ausschüttet. Das wiederum bedeutet, dass der Hungerstoffwechsel nicht in Gang kommt.

Langfristige Auswirkungen von Hunger

Menschen erholen sich vom Hungern. Einige haben jedoch mit langfristigen physischen und psychischen Auswirkungen zu kämpfen. Dazu können irreversible Organschäden oder Funktionsstörungen, eine beeinträchtigte Immunfunktion und ein Verlust der Knochendichte gehören.

Hungern kann sich auf Hormone wie Insulin, Cortisol und die Schilddrüse auswirken. Bei Menschen, die gehungert haben, besteht oft auch ein höheres Risiko, Magen-Darm-Probleme zu entwickeln. Hungersnot schwächt das Immunsystem und macht den Körper anfälliger für Infektionskrankheiten wie Cholera, Masern und Malaria.

Die Folgen von Hungersnot übertragen sich

Eine Hungersnot überträgt sich von der Mutter auf das Kind. Unterernährte Schwangere können die negativen Auswirkungen des Hungers an ihr Baby weitergeben. 

In einer Studie aus dem Jahr 2022 untersuchten Forschende der Pennsylvania State University in den USA Personen, die dem "holländischen Hungerwinter", einer Hungersnot am Ende des Zweiten Weltkrieges, ausgesetzt waren. Sie wollten die langfristigen Auswirkungen des Hungers auf Kinder untersuchen. Bei allen untersuchten Altersgruppen fanden die Forschenden heraus, dass Unterernährung im Mutterleib schwerwiegende Auswirkungen auf die Gesundheit hat. 

Babys, die unter solchen Umständen geboren wurden, hatten im späteren Alter ein erhöhtes Risiko für Diabetes, für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, für Fettleibigkeit sowie für Muskel- und Skelettprobleme und Hörschäden. 

Die psychologische Wirkung von Hungern

Mitte der 1940er Jahre machten sich Forscher daran, die Physiologie des Hungerns mit Hilfe eines Experimentes zu analysieren, das heutzutage undenkbar wäre. 

Unter der Leitung des amerikanischen Wissenschaftlers Ancel Keys bekamen 36 Versuchspersonen drei Monate lang nur die Hälfte der Kalorien, die sie eigentlich benötigten.

Die psychologischen Auswirkungen wurden dabei besonders deutlich. Viele Teilnehmer zogen sich zurück und wurden apathisch. Der Hunger überschattete alles. Sie interessierten sich nur noch für Dinge, die mit dem Essen zu tun hatten. Einige träumten sogar von Kannibalismus. Gleichzeitig waren ihre Sinne aufs Äußerste geschärft: Die Versuchspersonen vermochten sehr viel besser zu riechen und zu hören als vor Beginn der Studie. 

Schnelle Hilfe ist nötig

Den Menschen in Gaza helfen die Studien zurzeit wenig. Sie benötigen dringend Hilfe. Viele von ihnen sind akut von Hunger bedroht. Und die Hilfsorganisationen können oft nicht einmal zu den Hilfsbedürftigen vordringen. Der weitverbreitete Mangel an Nahrungsmitteln, an sauberem Wasser sei eine direkte Folge der Barrieren, auf die Hilfsorganisationen treffen. Die Menschen, so UNICEF, seien hungrig, erschöpft und litten unter Schock. 

Das Gehirn steuert den Stoffwechsel so, dass es selbst überlebt. Alle anderen Organe schrumpfen auf etwa die Hälfte des ursprünglichen Gewichts. Bild: magicmine/Zoonar/picture alliance

 

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