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Politik

"Ein Geschenk Allahs" für Erdogan

Can Dündar
15. Juli 2019

Drei Jahre nach dem Putschversuch erklingen für Erdogan nicht Siegesfanfaren, sondern Alarmglocken. Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur der türkischen Zeitung Cumhuriyet, über den Tag, der alles veränderte.

Türkei Putsch
Erdogans Anhänger feiern den gescheiterten Putschversuch auf dem Taksim-Platz in IstanbulBild: picture-alliance/A. Reenpaeae

In der Nacht des Putschversuchs am 15. Juli 2016 war der türkische Staatspräsident Erdogan mit seiner Familie im Urlaub in Marmaris. Als er von den Ereignissen erfuhr, reagierte er blitzschnell: Über den Chat-Dienst FaceTime verband er sich mit dem Fernsehsender CNN Türk. In einem improvisierten Aufruf forderte er die Menschen dazu auf, sich den Putschisten auf den Straßen in den Weg zu stellen.

Die Türkei hat bereits drei Militärputsche erlebt, aber einen Aufruf in dieser Form hatte es noch nie gegeben. Die früheren Präsidenten hatten schweigend die Macht abgegeben. Erdogans Aufruf zeigte Wirkung: Die Leute gingen unter dem tosenden Lärm der Jagdbomber auf die Straße und stellten sich den Panzern der Putschisten in den Weg. Über 300 Menschen verloren in der Putschnacht ihr Leben. Doch schließlich konnte die Türkei aufatmen.

Zum Zeitpunkt des Putsches war Erdogan sehr nervös. Als er mit dem Flugzeug von Marmaris nach Istanbul flog, packte ihn die Angst. "Sagt mir bitte ehrlich, auf welcher Seite ihr steht", soll er die Piloten des Flugzeugs gebeten haben. Als er landete, hatte er zwei Möglichkeiten: entweder das demokratische Momentum des Putsches in ein nationales Projekt zu transformieren. Oder die Gunst der Stunde zu nutzen, um ein "Ein-Mann-Regime" aufzubauen.

Der ehemalige Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet lebt im Exil in DeutschlandBild: picture-alliance/dpa/A. Dedert

Erdogan antwortet mit Gegen-Putsch

Er entschied sich für die zweite Option: Als er am Flughafen in Istanbul landete, bezeichnete er den Putschversuch als "Geschenk Allahs" und erklärte: "Nun ist es an der Zeit, unser Militär zu säubern."

Eine "Säuberung". Dieses Wort, das drei Stunden nach der Niederwerfung des Putschversuchs fiel, sollte die folgenden drei Jahre die ganze Türkei prägen. Die "Säuberung" betraf nicht nur die Anhänger der Gülen-Bewegung in den Reihen des Militärs, sondern alle Gegner Erdogans.

Nach einer siebenstündigen Kabinettssitzung am 20. Juli 2016 - fünf Tage nach dem Putschversuch - leitete Erdogan seinen Gegen-Putsch ein. Um "die Gefahr zu beseitigen", wurde für drei Monate der Ausnahmezustand verhängt.

Und das war nur der erste Schritt hin zu einem Regimewechsel. Erdogan kassierte die Kompetenzen des Parlaments, der Regierung und sogar der Justiz ein und fing damit an, ein Regime auf die Beine zu stellen, in dem sich alle Macht in nur einer Hand befindet. In seinen Worten war der Prozess ein "Zweiter Befreiungskrieg". Jeder, der sich gegen ihn positionierte, wurde als Feind betrachtet. Mit Hilfe von über 30 Dekreten leitete er eine "Säuberung" ein.

Mehr als 125.000 Beamte, Polizisten, Lehrer, Richter, Anwälte und Akademiker wurden entlassen, ungefähr 500.000 Menschen wurde der Prozess gemacht, 1.500 Vereine wurden verboten, oppositionelle Medien wurden zensiert und geschlossen, viele Journalisten wurden zum Schweigen gebracht. Dank "Geschenk Allahs", wie Erdogan den Putschversuch bezeichnete, marschierte er zur totalen Macht.

Die große "Säuberung" - Hunderttausenden "Gülenisten" wird nach dem Putsch der Prozess gemacht Bild: picture-alliance/dpa/Depo

Inszenierung als "starker Mann"

Natürlich reichten Erdogan drei Monate Ausnahmezustand nicht aus - er verlängerte diesen ganze sieben Mal. Als seine Macht an Grenzen stieß, weitete er sie einfach aus. Es war seine Absicht, im Frühjahr 2017 vor dem anstehenden Verfassungsreferendum mit einer Art "Hexenjagd" ein Klima der Angst zu schaffen, dass die Bevölkerung davon überzeugen sollte, einem autoritären Regime mit einem "starken Mann" zuzustimmen.

Doch die parlamentarische Macht der AKP reichte wohl nicht aus. Erdogan traf eine schicksalhafte Entscheidung: Er ging ein Bündnis mit der ultranationalistischen rechtsextremen Partei MHP ein. So entstand ein Bündnis der "türkisch-islamischen Synthese". Dieses Bündnis schaffte am 16. April 2017 das hundertjährige parlamentarische Regierungssystem ab und verankerte ein Präsidialsystem in der Verfassung. Im Juni 2018 wurde Erdogan bei den vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in seinem Amt bestätigt. 

Ausnahmezustand wurde Normalzustand

Danach brauchte er den Ausnahmezustand nicht mehr. Denn der Ausnahmezustand wurde in der Türkei der Normalzustand. Was bisher passiert ist, sieht auf den ersten Blick aus wie eine von Erdogan sorgfältig vorbereitete Erfolgsgeschichte. Aber diese Geschichte ist noch nicht zu Ende!

Denn die polarisierende Politik von AKP und MHP führte zu der Bildung einer demokratischen Front gegen Erdogan. Hinzu kommt, dass die Türkei in eine wirtschaftliche Krise geriet. Grund hierfür ist die Zerstörung von Regulierungsmechanismen im Parlament, Regierung und Justiz - dadurch kam es zu Misswirtschaft und Korruption.

Die Manöver des türkischen Präsidenten blieben im Schlamm stecken. Die Bürokratie, die gänzlich von dem Präsidentenpalast abhängig ist, kam zum Erliegen. Die Verunsicherung der Bevölkerung nahm zu. 

Erdogan ist es nicht gelungen, nach den Massenentlassungen im Zuge der "Säuberungen" fähige Bürokraten in der Verwaltung zu installieren. Weder die Polizeikontrollen und Überwachung, noch sein eigener Schwiegersohn, den er ins Finanzministerium brachte, noch das Mobilmachen gegen Amerikaner, Christen, Gülenisten oder Kurden haben irgendetwas gebracht.

In diesem Frühjahr verlor Erdogan die Kommunalwahlen. In Metropolen wie Ankara und Istanbul musste er Niederlagen einstecken - Städte, die er ein Vierteljahrhundert unter seiner Kontrolle hatte. Während sich die Opposition vereinte, tat sich in seiner Partei ein Bruch auf. Am dritten Jahrestag des 15. Juli erklingen für Erdogan nicht die Siegesfanfaren, sondern die Alarmglocken.