Albanien von innen
5. März 2021Ein alter VW Golf war der Ausgangspunkt. 10.000 Kilometer fuhr Franziska Tschinderle damit. Am Ende war das Auto schrottreif - aber sie brachte einen Kofferraum voller Geschichten mit. Geschichten aus Albanien.
"So richtig verstehen kann man Länder ja erst, wenn man dort lebt", erklärt die Journalistin aus dem österreichischen Kärnten, warum sie sich ein halbes Jahr in der albanischen Hauptstadt Tirana einquartierte, die Sprache lernte und tief in den Alltag des EU-Beitrittskandidaten eintauchte. "Ich hatte von Tirana erstmal den Eindruck einer mediterranen, hippen Stadt", erzählt Tschinderle.
In der guter Kaffee serviert wird, wie sie gleich zu Beginn ihres Aufenthalts feststellt, schaumiger Macchiato, den "Gastarbeiter" mit nach Albanien gebracht haben, die "in den Neunzigerjahren als Kellner in Italien gearbeitet hatten". Der Macchiato erzählt Geschichten - von jungen Albanern, die Tage im Café zubringen, weil sie keine Jobs finden.
Tschinderle findet Geschichten hinter Alltagsgegenständen, mit offenen Augen und Ohren ist sie in ganz Albanien unterwegs - das zeichnet gute Reporter/innen aus. Aus den Geschichten macht sie ein Buch. Ihre Herangehensweise hebt sich wohltuend vom "Parachute-Journalismus" ab - rein, berichten, raus. Tschinderle dagegen lässt sich auf das Land ein.
"Generation Callcenter"
Die Auslandsredakteurin des Wiener Nachrichtenmagazins "Profil" nimmt uns mit zu ihrer Sprachlehrerin Blerta aus Shkodra, die Pflegekräften in spe Deutsch beibringt - Arbeitskräfte-Nachschub für deutsche Pflegeheime.
Tschinderle stellt uns Irdi vor, einen Vertreter der "Generation Callcenter", der in den ersten Monaten "vor der Schicht Tabletten gegen das Kopfweh schluckte". Irdi ist der menschliche Prellblock für Telefonkunden in Mailand oder Rom, deren Internet nicht funktioniert oder "die einfach nur jemanden anbrüllen wollen, weil schon wieder die Preise gestiegen sind".
Im Backstage-Bereich
Menschen wie Irdi sind das Lumpenproletariat der Globalisierung: Sie sind gut ausgebildet, sprechen Fremdsprachen, verdienen knapp über dem Mindestlohn, haben dabei ständig Qualitätskontrollen und die Uhr im Nacken. "Wir sind wie Maschinen" zitiert Tschinderle den jungen Mann, der sein Italienisch wie viele Albaner als Kind über Zeichentrickserien auf den TV-Kanälen von der Küste gegenüber gelernt hat.
Mehr als 100 Interviews hat Tschinderle geführt, die Bandbreite ihrer Geschichten reicht vom "Luxus-Resort an der Küste" bis zum dunklen Erbe des stalinistischen Diktators Enver Hoxha, der Albanien von 1944 bis 1985 beherrschte. Sie ist unterwegs im Backstage-Bereich des Landes, das 2019 immerhin sechs Millionen Touristen besuchten.
Begegnung mit der dunklen Vergangenheit
Jahrzehntelang schlief Albanien einen Dornröschenschlaf, abgeschottet durch das Hoxha-Regime. Hunderttausende Bunker - heute als Ziegenställe, Restaurants oder Studenten-Hostels genutzt - zeugen von dessen Paranoia. Die je aktuelle Kopfbedeckung des Diktators markierte, wen er gerade als Verbündeten betrachtete, überworfen hat er sich im Laufe der Zeit mit Tito, den Russen, den Chinesen.
Der heutige sozialistische Premierminister Edi Rama - ehemaliger Basketballer und Künstler - habe vor allem "Dark Tourism" aus den ehemaligen Bunkern des Diktators gemacht, beklagt Tschinderle. Sie will mehr erzählen. Hoxha hatte auch 2000 Gotteshäuser zerstört, er wollte den ersten "atheistischen Staat" der Welt schaffen.
Toleranz dank Repression
Die Verfolgung der Religionen und Gläubigen führte zu einem Paradox: Toleranz gegenüber Andersgläubigen - auch wenn arabische Emire und der türkische Präsident heute ebenfalls in Albanien Fuß fassen. "Ich bin Muslim" lässt Tschinderle ihren Vermieter sagen und eine "Kette mit Kreuz unter seinem Hemd " hervorziehen.
Die neue Religion der Albaner ist die rote Nationalflagge mit dem schwarzen Doppeladler, die grenzüberschreitend auch im Kosovo, in Nord-Mazedonien oder im serbischen Preševo-Tal weht.
Aktivisten und Derwische
Im "Blloku", wo Hoxha und die kommunistische Nomenklatura einst wohnten, geht heute Albaniens hippe Hauptstadtjugend aus - ein schickes Ausgehviertel "wie Berlin-Kreuzberg oder Wien-Neubau", meint die 27-Jährige. "Was mir Spaß gemacht hat", sagt Tschinderle, sei es gewesen, junge Aktivisten zu portraitieren, zum Oberhaupt des Bektashi-Derwischordens zu pilgern. Oder über "Menschen" zu schreiben, "die plötzlich das boomendste Restaurant der Stadt betreiben".
Damit meint die österreichische Journalistin Bledar Kola, der in 1990er Jahren von Schleppern über die Adria gebracht wird und dem heute die "New York Times" huldigt. Kola hat sein Handwerk unter anderem im Kopenhagener "Noma" von Chefkoch Redzepi gelernt - mehrfach als bestes Restaurant der Welt ausgezeichnet.
Geschichten, die es sonst nicht in die Berichterstattung schaffen
Tschinderle war auch bei Naturschützern und in der früheren Waffenschmiede Hoxhas. Sie erzählt die Geschichte einer Familie, die während des Zweiten Weltkrieges Juden versteckt hat - geleitet vom Gastrecht aus dem "Kanun", dem überlieferten albanischen Gewohnheitsrecht.
Nach dem Prinzip "Gleiches mit Gleichem" dient der Kanun bis heute aber auch als Rechtfertigung für Blutrache. Tschinderles beklemmendste Geschichte ist die von Marija, die vor ihrem 18. Geburtstag starb, "als sie auf dem Feld gearbeitet hat, Männerkleidung trug und ihre Haare unter einer Kappe versteckt hatte".
Der Großvater wurde erschossen, die Enkelin auch - weil die verfeindete Familie sie für einen Mann hielten. "Ich wollte Geschichten erzählen, die es sonst nicht in die Berichterstattung schaffen", sagt Tschinderle. Heraus kam ein vielschichtiges Portrait des heutigen Albanien.
Franziska Tschinderle: Unterwegs in Albanien - Meine Reise durch ein unbekanntes Land, DuMont Reiseverlag ca. 300 Seiten Preis: € 16,95 (D) / 18,50 (A) / 23,90 (CH) ISBN: 978-3-7701-6635-0