Albaniens ungewöhnliche Muslime: Die schiitischen Bektaschi
14. August 2024Sie entsprechen so gar nicht den westlichen Klischees über Muslime: die Bektaschi in Albanien. Sie sind eine schiitisch-sufistische Strömung, die seit Jahrhunderten das Land in Südosteuropa prägt. Im multireligiösen Albanien sind heute etwas mehr als die Hälfte der Albaner Muslime, neben ihnen gibt es orthodoxe und katholische Christen. Die Muslime teilen sich auf in mehrheitlich sunnitische Muslime und die Bektaschi, die weltanschaulich mit den Aleviten in der Türkei verwandt sind.
Der Sufi-Orden fällt durch einige Besonderheiten auf, die seine Anhänger in den Augen mancher Muslime als heterodox, also als nicht rechtgläubig erscheinen lassen. Als sufistische Strömung betonen die Bektaschi die Einheit alles Seienden und die innere Spiritualität der Gläubigen. Äußere Formen und religiöse Verpflichtungen sind für sie zweitrangig. Denn wer eng mit Gott verbunden ist, kann auch durch die Nicht-Einhaltung religiöser Vorschriften, wie zum Beispiel des Alkoholverbots, nicht von Gott getrennt werden. Diese Haltung führt dazu, dass sich die religiöse Praxis der Bektaschi von der vieler anderer Muslime unterscheidet.
Statt der fünf täglichen Gebetszeiten beten sie zweimal am Tag, bei Sonnenaufgang und -untergang. Männer und Frauen beten gemeinsam in den Tekke, Gebetshäusern, die von spirituellen Führern, den Derwischen, geleitet werden. Gebetsversammlungen gibt es auch in den Privathäusern. Frauen tragen in der Regel kein Kopftuch. Musik und Tanz spielen eine wichtige Rolle. Jedes Jahr treffen sich die Bektaschi zur Pilgerfahrt auf dem Berg Tomorr im Süden Albaniens, wo sie in einer Mischung aus Volksfest und Familientreffen gemeinsam feiern. Sie prägen Albanien in besonderer Weise, kleine Minderheiten von Bektaschi gibt es aber auch in Nordmazedonien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, in Kosovo und in Griechenland.
Der Gründervater: ein Nonkonformist?
Der Ursprung des Ordens liegt bei seinem Gründer, Sufimeister Hadschi Bektasch Veli aus der Provinz Khorasan im Nordosten des Iran. Er emigrierte im 13. Jahrhundert nach Anatolien, wo er bis heute auch von Aleviten verehrt wird. Details zu seinem Leben und Wirken sind allerdings nicht eindeutig überliefert. Ob Hadschi Bektasch Veli tatsächlich nonkonformistisch war oder ob er nicht doch mehr wie ein orthodoxer Heiliger lebte, sei unter Forschenden umstritten, sagt die Religionswissenschaftlerin und Ethnologin Leyla Jagiella. Sie beschäftigt sich mit Fragen von Orthodoxie und Heterodoxie im Islam.
Im 15. Jahrhundert gewann der von Hadschi Bektasch Veli gegründete Orden durch seine Nähe zu den Janitscharen, der Leibgarde des Sultans in Istanbul, an Einfluss. Mit der Ausdehnung des Osmanischen Reichs auf den Balkan kamen die ersten Bektaschi als Seelsorger der sunnitischen Janitscharen nach Albanien und Griechenland. Ihre Tekke in Südalbanien sind in den Berichten des türkischen Reisenden Evliya Celebi (1611-1685) gut dokumentiert.
Ein Spiegel islamischer Vielfalt
"Das Bektaschitum weicht von sehr vielem ab, was wir heute als muslimische Orthodoxie verstehen", sagt Jagiella, "aber es hat in der islamischen Geschichte schon immer eine große Vielfalt gegeben." Der Bektaschi-Orden vereine ganz unterschiedliche Quellen und Inhalte, etwa Einflüsse radikal-schiitischer Strömungen aus der Frühzeit des Islam, als sich das Sunnitentum, der "orthodoxe Mainstream", erst noch herausbilden musste, um zu definieren, was noch zum Islam gehört und was nicht. Auch der Sufismus, die mystische Strömung im Islam, habe einen großen Einfluss. Alle diese unterschiedlichen Elemente fließen im 13. bis 15. Jahrhundert in die Bektaschi-Bewegung ein.
Wie bei anderen Schiiten auch spielt die Verehrung von Mohammeds Schwiegersohn Imam Ali, seiner Frau Fatima und ihren Söhnen Hassan und Hussein eine große Rolle. Doch bei den Bektaschi kommt noch etwas anderes hinzu, was manchen orthodox-sunnitischen Glaubenswächtern, etwa in Saudi Arabien, nicht gefallen dürfte.
"Häufig haben Bektaschi in ihren Wohnungen Bilder von Ali hängen, was dem islamischen Bilderverbot widerspricht", schreibt der 2017 verstorbene kanadische Albanien-Experte Robert Elsie in seinem Standardwerk "The Albanian Bektashi. History and Culture of a Dervish Order in the Balkans". Das Verbot von Alkohol werde zumindest von manchen Bektaschi nicht eingehalten. In der Empfangshalle ihres Oberhaupts, dem Baba Mondi, in Tirana sollen nach Berichten von Besuchern sogar Flachmänner von Derwischen in einer Vitrine ausgestellt gewesen sein.
Auch die Grenzen zu den anderen Religionen verlaufen fließend. Viele Bektaschi verehren nicht nur den Propheten Mohammed, sondern auch Jesus, denn die göttliche Wahrheit ist für sie viel größer als die von Menschen verfassten Konfessionen und Religionen. So stehen die Bektaschi bis heute auch für eine besonders ausgeprägte Toleranz.
Allerdings sei die westliche Sicht auf die Bektaschi teilweise von einem orientalistischen Blick geprägt, meint die Religionswissenschaftlerin Jagiella, und die Begeisterung über "trinkende Muslime" irreführend, denn die Bektaschi verorten sich ganz klar im Islam. "Alkohol- und Bilderverbot sind in der islamischen Geschichte immer wieder diskutiert worden, und es gab unterschiedliche Haltungen dazu." Die Vorlagen für die Bilder von Imam Ali oder Imam Hussein in Tekke und Privathäusern stammten aus den schiitischen Pilgerstätten im Iran oder aus Nadschaf und Kerbela im Irak. Auch im sunnitischen Mehrheitsislam habe es zur Frage des Bilderverbots Debatten und unterschiedliche Positionen gegeben. "Im schiitischen Islam wurde das Bilderverbot nie ganz konsequent eingehalten", sagt Jagiella. "Im populären schiitischen Islam sind diese Bilder daher weit verbreitet."
Zentrales Element nationaler Identität
Typisch für die Bektaschi ist außerdem eine enge Verbindung zum albanischen Nationalismus. Das liegt auch daran, dass sie, anders als die sunnitischen Muslime Albaniens, außer für zentrale Texte aus dem Koran, die albanische Sprache anstelle von Arabisch für ihre religiöse Unterweisung nutzen. So waren sie im Kampf um nationale Unabhängigkeit an vorderster Stelle aktiv und verkörpern ein zentrales Element albanischer nationaler Identität.
Mit dem Beginn der kommunistischen Zeit gerieten die Bektaschi wie alle anderen Religionsgemeinschaften in Albanien stark unter Druck. Der Diktator Enver Hoxha (1908-1985) verbot 1967 alle Religionsausübung und erklärte Albanien zum "ersten atheistischen Staat" der Welt. In einer radikalen Kulturrevolution ermutigte die Regierung Attacken auf Kirchen, Klöster und Moscheen und ließ mutwillig Tekke zerstören. Als das Gesetz im November 1990, kurz vor dem Ende der kommunistischen Herrschaft, wieder aufgehoben wurde, standen nur noch sechs Tekke in ganz Albanien, und es gab nur noch einen einzigen Derwisch.
Alle Religionsgemeinschaften mussten sich erst wieder neu finden. Für die Bektaschi sei es besonders schwierig gewesen, sich wieder von dieser Verfolgung zu erholen, schreibt Robert Elsie. Im Gegensatz zu den sunnitischen Muslimen, die Unterstützung aus der Türkei erhielten, sowie den christlichen Kirchen sei es für sie deutlich schwieriger gewesen, die nötige Unterstützung für den Wiederaufbau aus dem Ausland zu generieren. Heute gibt es wieder ein neues Interesse an der Spiritualität und der Kultur der Bektaschi. Auch wenn sie nur vier bis fünf Prozent der Gesellschaft ausmachen, sind sie ein prägendes Element der populären Volkskultur Albaniens.