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Politik

"Tiefpunkt der UN-Geschichte"

15. Dezember 2016

Weil Russland sich sperrt, sind die Vereinten Nationen in Aleppo handlungsunfähig. Möglich wäre nur eine humanitäre Intervention wie einst im Kosovo, sagt Völkerrechtlerin Nele Matz-Lück. Die sei aber umstritten.

Syrien Mann und Kind in Aleppo
Bild: REUTERS/A. Ismail

DW: Frau Professor Matz-Lück, warum tut die internationale Staatengemeinschaft in der aktuellen Situation in Aleppo nichts? Wieso gibt es keine militärischen Lösungen?

Nele Matz-Lück: Wer am besten handeln könnte, wäre der UN-Sicherheitsrat. Entsprechende bindende Maßnahmen nach Kapitel sieben der Charta der Vereinten Nationen, die eine Situation beenden sollen, die den internationalen Frieden bedroht, können aber nicht gegen das Veto eines der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates durchgesetzt werden. Das ist in diesem Fall Russland. Würde man trotzdem militärisch eingreifen, verstieße man damit gegen das Gewaltverbot nach Artikel zwei, Absatz vier der UN-Charta. Das heißt: Wir haben vor allem deshalb keine verbindlichen Maßnahmen des Sicherheitsrates, weil Russland sich dem sperrt.

Gibt es keine Möglichkeit, sich über so ein Veto hinwegzusetzen?

Formell nein. Das heißt: Eine verbindliche Maßnahme des Sicherheitsrates gegen das Veto eines der ständigen Mitglieder kann es nicht geben. Die Frage, die sich hier stellt, ist: Gibt es eine humanitäre Intervention? Das heißt, ein militärisches Eingreifen, das nicht vom Sicherheitsrat autorisiert ist, so wie das im Kosovo damals war. Ob das völkerrechtlich zulässig ist, ist aber weiterhin hoch umstritten. Im Kosovo hat man damals gesagt: "Es war nicht legal, aber es war legitim." Dieselbe Situation haben wir im Fall von Aleppo natürlich auch, aber weil es völkerrechtlich so umstritten ist, greifen im Moment kein Staat und nicht einmal eine kleine Koalition der Willigen militärisch ein. Es kann hier letztlich nur eine politische Lösung geben, aber dafür braucht man Russland und Syrien. Ein Eingreifen von Außen zu diesem Zeitpunkt ist fast nicht möglich.

Wir befinden uns jetzt in einer Situation, die wir schon kennen. Nach Ruanda, nach Srebrenica und anderen grausamen Verbrechen hatte man gesagt: "So etwas darf sich nie wiederholen", aber es wiederholt sich. Wir haben weiterhin ein nur sehr beschränktes und - wie ich finde - unzureichendes Instrumentarium. Unabhängig davon, weiß ich nicht, ob in Aleppo eine militärische Lösung tatsächlich erfolgversprechend wäre.

Sie haben gerade von einer politischen Lösung gesprochen. Wie müsste diese aussehen?

Nele Matz-Lück war auch als Rechtsberaterin für das Auswärtige Amt tätig Bild: Moritz Beck

Sie müsste so aussehen, dass in Syrien insbesondere mit Russland zusammen auf einen Waffenstillstand hin gewirkt wird. Es ist allerdings alles so undurchsichtig, dass man gar nicht genau weiß, mit wem man sich eigentlich an einen Tisch setzen muss. Sicherlich mit dem syrischen Regime und mit Russland. Eigentlich notwendig wären auch die Türkei und die Rebellen - wer immer das ist. Mit dem sogenannten Islamischen Staat aber möchte man sicherlich nicht verhandeln.

Hätte man schon viel früher eingreifen müssen? Wann hätte das sein müssen und in welcher Form?

Ob ein frühes militärisches Eingreifen wirklich sinnvoll gewesen wäre, kann ich nur schwer sagen. Ich glaube, dass die Einrichtung einer Flugverbotszone - auch gegen den Willen des syrischen Regimes - zu einem frühen Zeitpunkt sicherlich geholfen hätte, um das Leid der Zivilbevölkerung zu lindern. Die Frage ist aber auch: Hätte Russland dem zugestimmt?  Alles andere, was man ansonsten versucht hat, war letztlich wenig erfolgreich. Wie beispielsweise das Abringen eines Chemiewaffen-Verzichts vom syrischen Regime. Man muss ja weiterhin davon ausgehen, dass Chemiewaffen behalten und eingesetzt worden sind.

Am Dienstag kam es im UN-Sicherheitsrat zu einem denkwürdigen Schlagabtausch. Während die amerikanische UN-Botschafterin Samantha Power Syrien, Russland und dem Iran vorwarf, für einen "kompletten Kollaps der Menschlichkeit" in Aleppo verantwortlich zu sein, konterte ihr russischer Kollege Vitaly Churkin, sie solle sich nicht aufführen wie "Mutter Teresa". Was sagt das über den momentanen Zustand der Vereinten Nationen aus?

Ich erlebe die UN gerade in diesen Fragen als weiterhin handlungsunfähig und wir kennen diese Handlungsunfähigkeit aus humanitären Katastrophen der Vergangenheit. Für mich stellt es sich so dar, dass man zwar immer wieder bekräftigt, man wolle aus der Geschichte lernen und es dürften sich Situationen nicht wiederholen, aber sie tun es eben doch. Das liegt daran, dass Staaten eigene politische Interessen über die Interessen an der Verhinderung einer humanitären Katastrophe stellen. Das sieht man, denke ich, am Verhalten von Russland und auch den USA sehr deutlich. Am Ende hilft es den in Aleppo eingeschlossenen Menschen kein bisschen, wenn sich Staatenvertreter bei den Vereinten Nationen gegenseitig beschimpfen.

In einer der vielen Videobotschaften von Bewohnern aus Aleppo sagte ein Mann, dass er nicht mehr an die internationale Gemeinschaft glaube, weil man dort einfach dabei zuschaue, wie Menschen ermordet würden. Ist die UN am Ende oder kann man einfach nicht mehr erwarten?

Ich fürchte, dass man von den Vereinten Nationen nicht mehr erwarten kann. Durch ihre Strukturen und insbesondere auch durch das Veto der ständigen Sicherheitsratsmitglieder in so entscheidenden Fragen blockieren sie sich selbst. Man würde sich natürlich wünschen, dass die UN in der Lage sind, ihrer Rolle als Friedenswahrer der Welt nachzukommen. Dem steht aber im Einzelfall die politische Situation entgegen.

Ein Helfer der syrischen Weißhelme: Ohne internationale Unterstützung sind sie machtlosBild: picture alliance/AA/Y. Alrejjo

Das hört sich sehr pessimistisch an, aber ich glaube, es ist nur ein weiterer Tiefpunkt in der Geschichte der Vereinten Nationen und der internationalen Staatengemeinschaft, dass in Aleppo nicht wirkungsvoll eingegriffen werden kann. Ich glaube nicht, dass das nun ein Wendepunkt ist oder ein Anlass, jetzt das Vertrauen in die UN zu verlieren. Es zeigt nur eine fundamentale Schwäche dieser Organisation.

Welche nächsten Ziele sollte die Internationale Staatengemeinschaft verfolgen?

Mein Wunsch wäre tatsächlich eine politische Lösung, die zunächst in einem Waffenstillstand besteht. Ich glaube, es wird keine Lösung geben ohne Russland. Letztlich muss man die Staaten in der Region sowie Russland und die USA einbinden. Ich sehe aber momentan keinen Willen der maßgeblichen Akteure, tatsächlich zu einer Lösung zu kommen - trotz der Bekundungen.

Ob ein militärisches Eingreifen von einer weiteren Seite die Lösung wäre, daran glaube ich nicht. Selbst wenn es in Anführungszeichen "gut gemeint" sein sollte im Sinne einer humanitären Intervention, um das Leid der Menschen und die Menschenrechtsverletzungen zu beenden. Das müsste ein Vorhaben sein, von dem man mit hundertprozentiger Sicherheit wüsste, dass es erfolgreich endet. Ich glaube, dass kein Staat der Welt, auch nicht die USA, die Gewähr dafür geben würden.

Die Völkerrechtlerin Professor Dr. Nele Matz-Lück ist Ko-Direktorin des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht in Kiel.

Das Interview führte Nastassja Shtrauchler.