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Swetlana Alexijewitsch: "Ich bin für eine Evolution"

Tatsiana Weinmann17. April 2014

"Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus" heißt das jüngste Buch von Friedenspreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Im DW-Interview spricht sie über den Maidan und die postsowjetische Gesellschaft.

Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2013 Swetlana Alexijewitsch
Bild: picture-alliance/dpa

Swetlana Alexijewitsch ist Belarussin, ihre Mutter Ukrainerin. 2013 wurde sie mit dem Friedenspreis der Deutschen Buchhandels geehrt. Die Begründung lautete, die Autorin zeichne die Lebenswelt ihrer Mitmenschen in Belarus, Russland und der Ukraine nach und verleihe deren Leid und Leidenschaften Ausdruck. Auch in ihrem neuen Werk geht es um die Menschen in der postsowjetischen Realität.

Deutsche Welle: Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine lassen keinen gleichgültig. Wie nehmen Sie die Situation wahr?

Swetlana Alexijewitsch: Es ist eine sehr tragische Situation, weil der Frieden, der so mühsam nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde, innerhalb von wenigen Tagen gesprengt wurde. Plötzlich zeigt sich, dass nationalistische Ideen noch leben, dass man immer noch zwischen "unseren" und "fremden" unterscheidet.

In Ihrem Essay für die FAZ bezeichnen Sie die begeisterte Reaktion der Russen auf die Annexion der Krim als Phänomen eines "kollektiven Putin". Wollen Sie damit sagen, dass die Begeisterung nicht nur an der staatlichen Propaganda liegt, sondern die Stimmung im Volk widerspiegelt?

Damit meine ich, dass es rein formell Putins Entscheidung war. Informell entsprach die Annexion der Krim aber der Erwartungshaltung der Gesellschaft. Warum sind denn heute in Russland die Begriffe wie "Liberaler" oder "Demokrat" die meist verbreiteten Schimpfwörter? Weil es unter den Menschen einen großen Hass auf alles gibt, was sich in den 1990ern abgespielt hat. Sie fühlen sich betrogen und beraubt. Das riesige Land, in dem sie aufgewachsen sind, existiert nicht mehr. Mehr als die Hälfte der russischen Bevölkerung ist verarmt. Das ist die Revanche des "roten Menschen". [Die Metapher "roter Mensch" meint einen Menschen mit durch die Sowjetideologie geprägter Mentalität, Anm. d. Red.]

Die Rache des "roten Menschen"Bild: picture-alliance/dpa

Der "rote Mensch"

Aber was hat der "rote Mensch" vom Gewinn der Krim?

Schauen Sie sich die Explosion des Patriotismus an, die militaristische Hysterie in Russland, die wir jetzt beobachten! Die Gedanken "Wir sind ein großes Land, wir sind stark. Alle sollen Angst vor uns haben", sitzen tief in der Mentalität. Unsere Politiker haben ein veraltetes Weltbild. Sie denken immer noch, dass man die Welt mit Gewalt und Dreistheit regieren kann. Und ich hoffe sehr, dass westliche Politiker eine Lösung finden, die den Ausbruch eines dritten Weltkrieges abwenden kann. Es sind oft Kleinigkeiten, die Kriege auslösen.

Die Ukraine ist ein riesiges Land. Es ist nicht einig. Ich bin zum Beispiel in Ivano-Frankivsk, im Westen der Ukraine, geboren. Ich habe meine Oma im Gebiet Vinnytsia, im Osten, immer besucht. Selbstverständlich orientiert sich der Osten mehr an Russland und der Westen mehr an Europa, aber antirussische Stimmungen gibt es überall im Land. Meine Oma hat mir als Kind immer Angst gemacht: "Wenn du nicht gehorchen wirst, kommen die Moskals." [Der Begriff "Moskal" ist ein verächtlicher Ausdruck für Russen und wird im Ukrainischen, Polnischen und Belarusischen verwendet. Anm. d. Autorin] Zudem ist der Holodomor bis heute als tiefe Kränkung im ukrainischen Bewusstsein verankert. [Holodomor bezeichnet den millionenfachen Hungertod von 1932/33, Anm. d. Red.]

Aber die Gedankenwelt des "roten Menschen" bekommt doch Risse?

Man mag kaum glauben, dass es vor zwei Jahren in Russland Massenprotestaktionen mit weißen Bändchen gab. Jetzt, nachdem einige Leute zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden, ist es viel ruhiger. Viele Russen haben Angst, dennoch sind sie gegen den Krieg in der Ukraine auf die Straßen gegangen. Mich bestürzt aber das Verhalten der russischen Intelligenz. Das Volk erwartet, dass sie auf ihrer Seite steht. Doch die meisten halten zu Putin.

Wobei ich sagen muss: Während der Arbeit an meinem Buch "Secondhand-Zeit" haben mir die meisten gesagt, wie unzufrieden sie damit sind, was nach dem Zerfall der Sowjetunion passierte. Man wollte keinen Kapitalismus, sondern Sozialismus mit menschlichem Gesicht.

"Freiheit ist nicht wie Schweizer Schokolade"

Ist das denn nicht typisch für Revolutionen von unten, dass man von Emotionen geleitet ist und nicht von rationalen, politischen Strategien?

Ja, leider sind Revolutionen nie schön. Es kommt immer zu Blutvergießen. Revolutionen gehen immer mit dem Anstieg von Kriminalität einher. Außerdem erfordert Freiheit viel Arbeit. Man hatte wohl die Vorstellung, Freiheit sei so etwas wie Schweizer Schokolade, die man einfach importieren kann.

Ihr jüngstes Buch "Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus"

Welchen Einfluss hat der Maidan auf die Nachbarländer? Ist eine Kettenreaktion beispielsweise in Belarus möglich?

Ich glaube nicht, dass das in Belarus in naher Zukunft geschieht. Es ist ein kleines Land. Zudem wird es von einem starken, dreisten, charismatischen und erfahrenen Menschen angeführt, der seine Macht nie ohne Blutvergießen aufgeben wird. Man will heute kein Blut mehr vergießen. In dem Sinne hat der Maidan sogar eine negative Wirkung. Die Menschen haben Angst, sie wollen leben, das Leben genießen.

Als ich sah, wie mutig die Ukrainer waren, wie junge Leute ihr Leben geopfert haben, hatte ich ein zwiespältiges Gefühl. Mich erfüllte es mit Stolz, aber der Preis schien mir unangemessen hoch. Ich bin für den langsamen Weg, für die Entwicklung der Zivilgesellschaft. Die Menschen haben es immer eilig. Mir scheint, wenn es um historische Veränderungen geht, sollte man sich nicht beeilen. Insbesondere nicht im postsowjetischen Raum.

Stimmt es, dass in Belarus Kurse in belarussischer Sprache in Mode sind - sozusagen als Zeichen für das Entstehen einer eigenen belarussischen Identität?

In der Tat. Ich glaube, das Interesse wurde durch die ukrainische Revolution geweckt. Junge Belarussen interessieren sich nun für ihre Geschichte. Ich denke, dass das Widerstreben langsam wächst. Aber es braucht Zeit. Deswegen bin ich dafür, dass der Westen der Ukraine nach Kräften hilft, damit die Veränderungen für die Menschen spürbar sind. Das würde sich auch auf die Nachbarn auswirken. Wenn sie sehen, dass die Lebensqualität der Ukrainer steigt, ist das die beste Werbung für eine neue Zeit. Deswegen votiere ich für langsame Evolution.

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