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Literatur

Alfred Grosser über "Le Mensch"

Sabine Peschel
16. März 2017

Die Gegenüberstellung eines "Wir" und eines "Die da" müsse durch die komplexe Antwort "einige so – andere anders" ersetzt werden, sagt der französische Publizist und Politikwissenschaftler Alfred Grosser.

Deutschland Lit.Cologne - Alfred Grosser
Bild: picture-alliance/dpa/R. Vennenbernd

"Ich bin intellektuell pessimistisch und genetisch optimistisch." Der 92-jährige Alfred Grosser hat sich noch kein Stück von der Beurteilung des Weltgeschehens und des europäischen Politikbetriebs verabschiedet. Das macht er gleich zum Auftakt einer Veranstaltung im Rahmen des Kölner Internationalen Literaturfestes lit.Cologne zur Vorstellung seines 37. Buchs deutlich.

In "Le Mensch" setzt sich der Politikwissenschaftler und Historiker mit der "Ethik der Identitäten" auseinander – ein brisantes Thema in Zeiten, in der die Zuschreibung von Identitäten zum Instrument des Kulturkampfs geworden ist. "Wir und Die", der kategorisierende Blick bestimmt aktuell die Diskussion um Flüchtlinge, Nationalität, Islam, Judentum. Doch es gibt keine einfachen Zugehörigkeiten, betont Grosser. "Das Gegenteil von 'die' ist nicht 'keiner'. Sondern es muss heißen: Die einen sind so, die anderen anders."

Wegbereiter der deutsch-französischen Aussöhnung

Der Jude Alfred Grosser floh vor dem Terror der Nazis und wurde schon 1937 französischer Staatsbürger; das hat ihn 1939 vor der Internierung bewahrt. Er studierte Geschichte, Politik und Germanistik, lehrte ab 1955 als Professor am Pariser "Institute d'études politiques", dem Institut, an dem die gesamte französische Politiker-Elite ausgebildet wurde und dem er einmal "Inzucht" attestierte.

Seit 25 Jahren ist er im aktiven Ruhestand und immer noch der intellektuelle Kopf der deutsch-französischen Verständigung, der als Historiker und Politikwissenschaftler seit Jahrzehnten "ununterbrochen", wie Grosser selber sagt, Aufklärungsarbeit leistet: als Berater von Politikern, in Gesprächen mit Vertretern der Kultur und von Verbänden, und am allerliebsten mit Schülern. Für seine Rolle als "Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer Kontinente" wurde er schon 1975 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

2014 sprach Alfred Grosser im Deutschen Bundestag und erhielt viel Applaus für seine Rede Bild: picture-alliance/dpa

Es gibt keine einfache Identität

Wie werden wir, wer wir sind? Durch unser Geschlecht? Durch Kultur und Tradition? Durch Religion? Durch Heimat, Erziehung, nationale Mythen? Durch Erinnerung und Geschichte? Um diese Fragen geht es in "Le Mensch". Jeder von uns hat viele Identitäten, sagt Grosser und spricht dabei auch von sich selbst: Er sei ein Mann und keine Frau, Professor und Vater, Ehemann und Atheist.

Jeder Mensch sei schon durch mehrere gesellschaftliche Zugehörigkeiten definiert. "Die Engländer, die Juden, die Moslems, die Flüchtlinge, die Katholiken, die Nachbarn, die Ärzte, die Hausfrauen, die Apotheker, die Landwirte: Das 'Die' kommt entweder von außen oder von Gruppenvertretern, die behaupten, alle zu vertreten, die das 'Die' umfasst." Und die dann unheilvoll mit dem Finger auf andere zeigen.

Anleitung zum Menschsein

Doch "an sich bräuchte es gar keine identifizierten Zuschreibungen zu geben, wenn der Andere schlicht als Mensch betrachtet würde", schreibt  Grosser in der Einleitung zu seinem Buch. So erklärt sich auch der hybride Titel "Le Mensch", das Spiel mit dem französischen Artikel und dem deutschen Substantiv. Nein, umgedreht "Der homme" hätte das Buch keinesfalls heißen können. "Mensch" sei ein viel mehr umfassender Begriff als das sehr männlich zu verstehende französische "homme".

Worauf er damit ziele? Das Menschwerden sei etwas Wesentliches, erklärt Grosser, und er versuche zum Beispiel durch seine Arbeit mit Gymnasiasten, "dass sie mehr Mensch werden, als sie momentan sind: Über ihre Existenzbedingungen nachzudenken, kritische Distanz zu ihren Zugehörigkeiten zu gewinnen, das alles gehört zum Menschsein."

Es gibt keine deutsche Kollektivschuld

Stets diskussionsfreudig: der französische Publizist auf der 61. Frankfurter BuchmesseBild: picture-alliance/dpa

Der in Frankfurt geborene Publizist ist kein Deutsch-Franzose, gegen diese Zuschreibung verwahrt er sich. "Ich bin völlig Franzose geworden, einer, der sich viel um Deutschland kümmert, der sich das Recht genommen hat und dem es gewährt wird, mitzuwirken – aber von außen." Für das Kölner Publikum fasst er sein Anliegen humorvoll zusammen: "Ich erkläre Frankreich in Deutschland, Deutschland in Frankreich. Das heißt, dass ich in Deutschland Böses über Deutschland sage und in Frankreich Gutes über Deutschland, und in Frankreich Schlechtes über Frankreich sage, und in Deutschland Gutes über Frankreich." Doch er macht Ausnahmen: Angela Merkel kommt mit ihrer Flüchtlingspolitik sehr gut weg.

"Le Mensch" ist alles andere als eine akademische, theorielastige Abhandlung über Identität. Grosser verankert das Thema historisch und politisch konkret. "Die Deutschen" im Sinne einer Kollektivschuld gebe es nicht. Neben den Nazis habe es viele Deutsche gegeben, die nicht schuldig waren. "Es gibt unzählige Geschwister Scholls. Der linke Widerstand ist in der Beachtung immer zu kurz gekommen", erklärt er in Köln.

"Meine Freiheit ist zu sagen, was ich glaube"

Die Frage von Schuld und Verantwortung "der Deutschen" ist unter Geschichtswissenschaftlern eine intensiv geführte Debatte. Grosser führt die kontroverse Diskussion weiter, unter anderem mit dem Historiker Götz Aly, und er widerspricht auch dem ehemaligen Bundesaußenminister Joschka Fischer, der alle NS-Diplomaten für Nazis gehalten habe. "Meine Freiheit ist zu sagen, was ich glaube."

Dazu gehört auch seine Unterstützung für den Schriftsteller Martin Walser, der in seiner Rede bei der Verleihung des Friedenspreis' des Deutschen Buchhandels 1998 davon gesprochen hatte, dass sich "Auschwitz" nicht als "Moralkeule" eigne und damit bei Vielen Empörung ausgelöst hatte. "Er hatte völlig Recht mit seiner Rede. Auschwitz war fürchterlich, aber es soll uns nicht jeden Tag vorgeworfen werden als eine Art Keule."

Deutschland braucht ein Denkmal für Freiheit und Einheit

Bild: Dietz

"Uns" sagt Grosser an dieser Stelle, und sein Publikum dankt es ihm. Der Beifall ist groß für seine offenen Stellungnahmen, und sein Themenradius weit. Die deutsche Erinnerungskultur sei problematisch und das Berliner Holocaust Mahnmal schrecklich, eine Ansammlung von Grabsteinen. In Deutschland müsse ein echtes Denkmal für Freiheit und Einheit errichtet werden – aber keinesfalls die gemeinsam von den Architekten Milla & Partner und Sasha Waltz entworfene "Waage".

Und was erwartet er von den bevorstehenden Wahlen in Frankreich? Man müsse den sozialdemokratischen Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron wählen, die deutsche Presse mache sich viel zu viele Sorgen wegen Le Pen. Was ergibt der Blick über den Atlantik? Trump sei ein Fall für die Psychiatrie. Nur auf eine weltpolitisch bedeutende Frage hat der große Publizist keine Antwort: "Israel und Palästina – ich sehe keine Lösung. Manchmal versagen meine Gene."

 

Alfred Grosser: "Le Mensch. Die Ethik der Identitäten", Dietz Verlag 2017, 288 Seiten

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