Wenn Meinungsumfragen nicht stimmen
11. November 2016In all den Monaten vor den US-Präsidentschaftswahlen wurden wir überflutet mit Meldungen, welche Gefahren von Donald Trump ausgehen würden. Eine Schreckensvorstellung - der Mann mit der komischen Bad-Hair-Day-Frisur als Oberbefehlshaber der U.S. Armee. "Er ist ein Sexist", sagten die Leute, oder "ein Rassist, ein Wahnsinniger…" Auch haben einige gewarnt, er würde den dritten Weltkrieg vom Zaun brechen, nur um irgendeine kleinliche Streitigkeit zu lösen.
Doch jetzt hat er den Einzug ins Weiße Haus geschafft. Kaum jemand es hat kommen sehen - am wenigsten, wie es scheint, die Meinungsforscher.
Was ist da passiert?
"Es kommt einem so vor, als sei eine kleine Atombombe explodiert und die Überlebenden stolpern herum und fragen sich, was gerade passiert ist", sagt Ben Page, Geschäftsführer des britischen Meinungsforschungsinstituts Ipsos MORI. Eine vollständige Analyse wird wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Aber kann man nicht doch schon jetzt einiges erkennen, was in der Meinungsforschung schief gelaufen ist?
Wer geht überhaupt wählen?
"Ähnlich wie beim Brexit gab es eine erheblich größere Wahlbeteiligung als sonst", sagt Page. "In beiden Abstimmungen - sowohl beim Brexit als auch bei der Wahl Trumps - wurden ältere Wähler aus der Arbeiterklasse mobilisiert, die sich sonst nicht an Wahlen beteiligt haben.
Doch die Wahlforscher müssen eine Entscheidung zur Methodik treffen, wen sie befragen und wessen Aussagen sie in ihre Analysen einfließen lassen. Normalerweise sind das diejenigen, bei denen man mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass sie auch wirklich wählen gehen werden, erklärt Page.
"Wenn jemand sagt, dass er morgen sicher wählen gehen wird, aber herauskommt, dass er normalerweise nicht wählt, muss ich davon aus gehen, dass seine Aussage unzuverlässig ist." Also sortieren die Forscher solche Fragebögen aus.
Hätten die Wahlforscher solche Befragten bei früheren Präsidentschaftswahlen berücksichtigt, wäre das Ergebnis verfälscht worden. Beim Brexit und der Trump-Wahl war das anders. Hier wurde das Ergebnis gerade deshalb verfälscht, weil solche Wähler aus der Analyse aussortiert wurden.
Die alte Mehrheit erfindet sich als Minderheit neu
"Wahlforscher müssen Entscheidungen darüber treffen, welche demografischen Gruppen wählen gehen werden. So entwerfen sie ein "Schema der wahrscheinlichen Wähler" auf der Grundlage von Erfahrungen aus dem früheren Wahlverhalten der Menschen, sagt auch Mark Kayser von der Hertie School of Governance. "Und was wir in diesem Jahr wirklich als Anomalie gesehen haben, ist das Auftauchen dieser weißen, ländlichen Gruppenidentität."
Es ist eine Gruppe, sagt Kayser, die immer in der großen Mehrheit in der amerikanischen Politik in Erscheinung getreten war - und sie hat nie als Minderheit gewählt. Aber dieses Mal ist genau das passiert. "Vorher gab es dieses starke Gefühl einer weißen Identität nicht", sagt Kayser. "Das hat Trump wahrscheinlich losgetreten, und es war ein Problem für viele der [methodischen] Filter, mit denen 'wahrscheinliche Wähler' in den Vorhersagemodellen für Michigen, Wisconsin und Pennsylvania gemessen wurden."
Wer sagt die Wahrheit?
Doch selbst wenn man die richtigen Gruppen in Modellen berücksichtigt, gibt es immer noch die Gefahr, dass die Befragten davor zurückschrecken, den Forschern ihre wahren Absichten zu verraten.
"In Großbritannien ist das als das 'Scheue-Tory-Phänomen' bekannt. Wenn die Leute in der Wahlkabine sind, machen sie ihr Kreuz bei den Konservativen, das würden sie aber in der Öffentlichkeit nie zugeben", meint Kayser. "Vielleicht gab es jetzt auch so etwas wie ein 'Scheues-Trump-Phänomen', das in den Daten nicht erkennbar war."
Wohl eher lag es daran, dass die Meinungsforscher mit einer stärkeren Wahlbeteiligung der Hispanics und Frauen gerechnet haben, und damit mit mehr Stimmen für Hillary Clinton.
Was spielt es für eine Rolle?
Man könnte nun argumentieren, dass es ja egal ist, was in den Umfragen herauskommt, denn entscheidend ist schließlich das Ergebnis. Aber ganz so stimmt das nicht: Denn Meinungsumfragen können auch ein Wahlergebnis beeinflussen.
"Umfragen spielen in den Medien eine starke Rolle", sagt Nico Siegel, Meinungsforscher bei Infratest Dimap. Das Problem dabei sei, dass die Medien empirische Umfragen oft nicht wissenschaftlich betrachten.
Gibt es nun starke Indizien dafür, dass ein Kandidat gewinnen oder ein Referendum in einer bestimmten Weise ausgehen könnte, reagiert die Öffentlichkeit darauf. Falls ein Medium dieses mögliche Ergebnis stark genug publiziert - auch wenn es nur darum geht, die bessere Story zu haben - könnte das die jeweiligen politischen Gegner mobilisieren.
Und es kommt noch etwas hinzu: In Marktwirtschaften bekommt man das, wofür man bezahlt hat - sagt Siegel. Und je größer eine empirische Umfrage, desto teurer ist sie. Hat man aber nur 100 Befragte, wird das Ergebnis nie so präzise sein wie bei 100.000 Befragten.
"Meinungsumfragen mit eintausend oder zweitausend Teilnehmern werden nie geeignet sein, ein Wahlergebnis vorauszusagen", betont der Forscher. "Sie reflektieren eine allgemeine Stimmung. Wirkliche Vorhersagen sind nur am Wahltag möglich, auf der Grundlage von Befragungen der Wähler, wenn sie die Wahllokale verlassen [sogenannte 'Exit-Polls']."
"Kognitive Dissonanz" vermeiden
Heißt das dann, dass wir unsere Zeit vergeudet haben, als wir eifrig Artikel darüber gelesen haben, wie Hillary Clinton mit der neu aufgenommenen FBI-Ermittlung umgeht, oder welchen Schaden Trump durch die Veröffentlichung der Tonbandmitschnitte mit sexistischen Äußerungen erlitten hat? Als einige Wahlvoraussagen Clinton mit sieben Prozent in Führung wähnten - war das nur ein kollektives Kopf-in-den-Sand stecken, um uns vor dem bevorstehenden Wüstensturm zu schützen?
"Ich frage mich, ob wir nicht alle in einer Blase stecken, in der wir - insbesondere Journalisten und Leser/User in den sozialen Medien - konstant miteinander kommunizieren und interagieren und uns immer weiter in unseren bestehenden Ansichten bestärken", findet der britische Meinungsforscher Page.
Wahrscheinlich hat er recht, denn seine Beobachtung deckt sich mit der kommunikationswissenschaftlichen Annahme, dass wir Menschen eine kognitive Dissonanz nicht aushalten. Das heißt, wir suchen in allem was wir wahrnehmen, lesen oder auch sagen, Bestätigung dafür, dass unsere eigene Sichtweise zutrifft. Auf Englisch gibt es dafür einen Begriff: "Confirmation Bias" also sinngemäß "Voreingenommenheit durch Selbstbestätigung".
Messprobleme vor allem bei großen politischen Umwälzungen
"Das ist eine Herausforderung für Meinungsforscher, weil wir so nur durch Ereignisse in der Vergangenheit lernen können - und wenn die ganze politische Struktur sich verändert", sagt Page. "Meinungsumfragen können das kaum wahrnehmen."
Beobachter schätzen sowohl den Ausgang des Brexit-Referendums als auch der US-Wahl als Rechtsrutsch ein. Viele hätten sich wohl gewünscht, sie hätten das kommen sehen. Und mancher sorgt sich, was in den nächsten beiden großen Wahlen in Europa passiert - in Frankreich und Deutschland 2017.
So könnte Frankreich vielleicht das bekommen, was die USA gerade verpasst haben: Eine erste Präsidentin - Marine Le Pen - von der rechtsextremen Partei "Front National".
Big Data hilft auch nicht weiter
Gibt es irgendeine Hoffnung, die Methoden der Meinungsumfragen zu verbessern - vielleicht unter Nutzung der Sozialen Medien oder gar Big Data? Wahrscheinlich lautet die Antwort - nein. Denn das Unvorhersehbare lässt sich nicht vorhersagen - weil es um Menschen geht.