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Politik

Almaty: Schüsse und Anstehen für Brot

Anatolij Weißkopf
8. Januar 2022

Die Lage in Almaty scheint sich nach den massiven Unruhen der vergangenen Tage zu stabilisieren. Mit welchen Problemen haben die Menschen jetzt zu kämpfen? Ein DW-Reporter war in der größten Stadt Kasachstans unterwegs.

Kasachstan Almaty Militärsperre
Bild: PAVEL MIKHEYEV/REUTERS

Seit Tagen legt sich am Abend dichter Nebel auf Almaty. Dann sind Explosionen aus verschiedenen Teilen der Stadt zu hören, manchmal begleitet von graublauen Lichtblitzen, die vom trüben Schleier gedämpft werden. Immer wieder sind auch Schüsse zu hören.

Aber im Vergleich zu den vergangenen Tagen hat sich die Lage nach den Unruhen deutlich beruhigt. Die Bewohner der größten Stadt des Landes wagen sich inzwischen wieder raus. Viele hatten vor allem nach Einbruch der Dunkelheit Angst, ihre Häuser zu verlassen - nicht nur wegen der Ausgangssperre, die nach Beginn der Massenproteste verhängt worden war. Wer trotz der Sperrung des Internets unerwartet Netzzugang hatte, war schockiert von den Aufnahmen, die zeigen, wie eine junge Frau mit einem Kind von Kugeln getroffen wird. Wer auf sie schoss, ist unklar.

Menschen vor einem kleinen Laden in AlmatyBild: Anatolij Weisskopf/DW

Nun sind wieder deutlich mehr Menschen auf den Straßen zu sehen. Viele von ihnen suchen kleine Lebensmittelläden in ihrer Nachbarschaft auf, denn die großen Supermärkte und Einkaufszentren der Stadt sind weiterhin geschlossen.

Askar Jermekow ist Besitzer eines Ladens. Er sagt, gefragt seien vor allem Brot und Nudeln. "Bevor ich meinen Laden öffne, muss ich vor der Brotfabrik lange anstehen. Wenn ich es schaffe, kaufe ich 50 Brote. Mein Geschäft öffne ich um 9 Uhr morgens und um 10 Uhr habe ich fast nichts mehr da, auch keine Nudeln und keine Milch. Jetzt überlege ich schon, wie ich den Einkauf für morgen schaffen soll", erzählt Askar. "Die Brotfabriken arbeiten zwar, aber das Problem ist, dass ihre Fahrer Angst haben und die Auslieferung an Läden verweigern."

"Die Menschen haben es schwer - alle müssen jetzt helfen!"

Dennoch werden die Bewohner der Stadt offenbar mit genügend Brot versorgt. So backen jetzt die vielen kleinen Imbissbuden in den Stadtteilen auch Brot; sonst bieten sie eigentlich nur Schawarma und die Blätterteigtaschen Samsa an. Viele bereiten auch weitere Speisen nach kasachischer, uigurischer, usbekischer oder tadschikischer Tradition zu - Almaty ist eine multiethnische Stadt. Die Gerichte werden dann mit Autos in kleine Läden transportiert, wo sie kostenlos an Bedürftige verteilt werden. Gezählt wurden inzwischen über 7000 solcher Fahrten.

Verteilt wird frisches FladenbrotBild: Anatolij Weisskopf/DW

"Die Menschen haben es schwer. In einer solchen Zeit müssen alle so viel wie möglich helfen! Als ich hörte, dass es in der Stadt Probleme bei der Brotversorgung gibt, habe ich mich am frühen Morgen hingestellt und welches gebacken. Aber ich gebe nur einen Laib pro Person ab, damit jeder was bekommt", so die Besitzerin einer kleinen Bäckerei, die ungenannt bleiben möchte.

"Wir wissen nichts, wir hören nur, wie geschossen wird"

Auch eine kleine Bäckerei ganz in der Nähe der nun abgebrannten Residenz des kasachischen Präsidenten hat wieder ihre Arbeit aufgenommen und verteilt ebenfalls kostenlos Brot an Bedürftige. Die Warteschlangen sind auch Orte, wo Menschen untereinander aktuelle Informationen austauschen.

"Wie sollen wir sonst erfahren, was um uns herum passiert? Es gibt kein Internet. Auch der Mobilfunk funktioniert nicht bei jedem. Und der Fernsehempfang ist gestört. Wir wissen nichts, wir hören nur, wie geschossen wird. Es ist ein Informationsvakuum. Auch deshalb kommen wir hierher, um wenigstens etwas zu erfahren", sagt eine Frau, die nach Brot ansteht. Andere um sie herum nicken zustimmend.

Bei den Unruhen wurden auch Länden in Almaty geplündertBild: Valery Sharifulin/TASS/dpa/picture alliance

Verlässliche Informationen in und aus Almaty zu erhalten, ist schwierig. In der Stadt kursieren viele Gerüchte und unglaubliche Geschichten, die sich die Menschen meist über Festnetztelefone erzählen - falls sie überhaupt noch eins besitzen. Die guten alten Telefone sind zurzeit fast das einzige Kommunikationsmittel, das der Bevölkerung zur Verfügung steht. Denn weil das mobile Internet abgeschaltet wurde und es bei stationären Anschlüssen zeitweise Probleme gibt, fallen die Instant Messenger praktisch aus, die bei der Bevölkerung sehr beliebt sind. Unterbrechungen gibt es auch bei der Übertragung von Daten im Mobilfunknetz. Zudem wurden viele Terminals geplündert, über die Guthaben von Handys aufgeladen werden konnten.

Plötzlich fahren Panzer vor

Mit Beginn der Dämmerung sind wieder mehr Schüsse zu hören. Doch keiner, der noch ein Brot bekommen will, verlässt die Warteschlange. Scheinbar haben sie die Menschen bereits an die Umstände gewöhnt. Plötzlich fahren mit hoher Geschwindigkeit zwei Schützenpanzer vor. Wem sie gehören, ist unklar, denn die Fahrzeuge tragen keine Markierungen. Den Menschen bleibt nichts anderes übrig, als zu spekulieren. Einige meinen, es handele sich um die sogenannten "Friedenstruppen" aus Belarus oder Russland, andere sind überzeugt, es seien Einheiten der kasachischen Armee, die im Land für Ordnung sorgen wollten.

Schützenpanzer ohne Abzeichen in AlmatyBild: Anatolij Weisskopf/DW

Jedenfalls ist in den Straßen von Almaty nach der tagelangen Anarchie wieder Polizei zu sehen und Vertreter der Sicherheitsbehörden sind mit Maschinengewehren bewaffnet. Es gibt viele Patrouillen, obwohl zahlreiche Polizeiautos bei den Unruhen verbrannt oder zerstört wurden.

In einer Fernsehansprache am Freitag sagte der kasachische Präsident Kassym-Jomart Tokajew, allein Almaty sei von "20.000 Banditen" überfallen worden. Er ordnete an, dass die Sicherheitskräfte ohne Vorwarnung auf "Terroristen" schießen sollen. Appelle "aus dem Ausland" an die Parteien, über eine friedliche Lösung der Probleme zu verhandeln, wies Tokajew als "Dummheit" zurück.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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