Als die Ukraine unabhängig wurde - Ein Zeitzeuge berichtet
23. August 2024Zusammen mit anderen Abgeordneten trug Mykola Porowskyj am 24. August 1991 eine große ukrainische blau-gelbe Flagge in den Plenarsaal des Parlaments. Die Fahne, die die rot-blaue Flagge der Ukrainischen Sowjetrepublik ablöste, wird bis heute in dem Gebäude aufbewahrt. Es war der Tag, an dem die Volksvertreter der damaligen Ukrainischen Sowjetrepublik die Unabhängigkeit von Moskau erklärten und den Staat Ukraine ausriefen.
Dafür gekämpft hatte auch Porowskyj. Er war einer der Gründer und Anführer der damaligen Volksbewegung "Ruch", die sich in Opposition zur Kommunistischen Partei für die nationale Unabhängigkeit einsetzte. Porowskyj gehörte im Laufe der Jahre dem Parlament insgesamt drei Legislaturperioden an. Heute leitet er die kleine Republikanische Christliche Partei, die nicht im Parlament vertreten ist. Anlässlich des 33. Jahrestages der Ereignisse erinnert sich Porowskyj im Gespräch mit der DW an jene Tage.
"Eine einmalige politische Chance, die wir genutzt haben"
Im August 1991 kam es in der Sowjetunion zu einem Putschversuch, bei dem ein selbsternanntes "Notstandskomitee" in der Hauptstadt Moskau den damaligen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow absetzen wollte. Nachdem der Putsch gescheitert war, hätten sich die demokratischen Kräfte in Kiew vorgenommen, "unter allen erdenklichen Umständen die Unabhängigkeit des Landes auszurufen", sagt Mykola Porowskyj.
Die demokratische Opposition, die bei den ersten freien Wahlen 1990 ins Parlament einzog und sich dort als "Volksrat" bezeichnete, beantragte am 23. August eine Sondersitzung und beauftragte die beiden Abgeordneten Lewko Lukjanenko und Leontij Sanduljak, eine Unabhängigkeitserklärung zu verfassen. "Es war eine einmalige politische Chance, die wir genutzt haben", sagt Porowskyj.
Einigung zwischen Opposition und Kommunisten
Die kommunistische Mehrheit bestand aus 239 Abgeordneten und wurde daher "Gruppe 239" genannt. "Ohne ihre Stimmen wäre es unmöglich gewesen, die Unabhängigkeit auszurufen", erinnert sich Porowskyj. Das sei auch Ihor Juchnowskyj, dem Vorsitzenden des oppositionellen "Volksrats", klar gewesen. Daher habe er sich aufgemacht, "die Kommunisten zu überzeugen".
"Ihr müsst wissen, dass die demokratischen Kräfte, die in Moskau an die Macht gekommen sind, viele von Euch strafrechtlich verfolgen werden. Deshalb schlagen wir vor, die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine auszurufen, uns von Moskau zu lösen und uns zu einem unabhängigen Land zu erklären", sagte damals Juchnowskyj in einem Kinosaal, in dem sich die "Gruppe 239" versammelt hatte.
"In einer unabhängigen Ukraine, in der man nicht wie Marionetten von Moskau aus kontrolliert wird, werden wir uns einfacher unter uns einigen können", fügte Mykola Porowskyj damals hinzu. Ihm zufolge stellten die Kommunisten aber Forderungen. So sollte ihnen garantiert werden, dass von einer Verfolgung von Kommunisten und von ihrer Entfernung aus öffentlichen Ämtern abgesehen wird und dass alle geleisteten Arbeitsjahre auf ihre Rente angerechnet werden. Ihre Forderungen wurden akzeptiert und danach ging es zur Abstimmung.
"Die Ukraine ist soeben auferstanden!"
"Als wir die staatliche Unabhängigkeit erklärten, lief in der Nähe des Parlamentsgebäudes gerade eine Demonstration, bei der 10.000 bis 12.000 Menschen 'Unabhängigkeit' riefen", erinnert sich Porowskyj. Die Demonstranten zogen schließlich mit jener großen blau-gelben Fahne durch die Kiewer Innenstadt vors Parlament, wo Abgeordnete des "Volksrates" sie schon erwarteten.
An diesen Moment erinnert sich Porowskyj besonders gut: "Der Abgeordnete Dmytro Pawlytschko rief: 'Leute, geht auf die Knie, betet, die Ukraine ist soeben auferstanden! Wir haben die staatliche Unabhängigkeit verkündet!' Bei manchen flossen Tränen, andere hoben ihre Hände zum Himmel, andere beteten. Es war eine große Freude."
Dann sei die Fahne in den Plenarsaal des Parlaments getragen worden, sagt Porowskyj sichtlich gerührt. Gehalten haben sie ganz vorne der langjährige sowjetische Dissident und damalige Abgeordnete Wjatscheslaw Tschornowil und der Abgeordnete Iwan Sajez. Gleich hinter ihm hielt die Flagge Mykola Porowskyj fest. "Noch heute bewegen mich diese Momente, wenn ich an sie denke", sagt er.
"Wir waren uns siegessicher"
Zu jener Zeit befanden sich in der Ukraine etwa 900.000 Angehörige der sowjetischen Streitkräfte, davon Spezialeinheiten mit 60.000 Mann. Laut Porowskyj war dies eine "fürchterlich gigantische Kraft, die Millionen Menschen zu Staub hätte zermalmen können" und die "auf Befehl bereit war, alle Triebe der ukrainischen nationalen, patriotischen und staatlichen Wiedergeburt zu vernichten". Aber, so sagt er: "Wir glaubten an eine gute Zukunft, dass das gesamte ukrainische Volk sich erheben und uns folgen würde. Wir hatten keine Furcht vor bewaffneten Kräften, vor Widerstand, weil wir uns siegessicher waren."
Nur wenige Tage nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine traf eine Delegation aus Moskau unter Leitung des Vizepräsidenten der Russischen Föderation, Alexander Ruzkoj, in Kiew ein. Sie habe einen neuen Unionsvertrag für die ehemaligen Sowjetrepubliken durchsetzen wollen und die Gründung einer Konföderation vorgeschlagen, so Porowskyj.
Nach einem Aufruf übers Radio versammelten sich fast 60.000 Kiewer vor dem Parlament. Porowskyj erinnert sich an einen interessanten Moment: Er habe den russischen Politiker Anatolij Sobtschak gebeten, sich an die Menschen zu wenden. Alles sei gut gelaufen, bis Sobtschak, der eng mit dem noch unbekannten KGB-Offizier Wladimir Putin zusammen arbeitete, begonnen habe, von einer erneuerten Sowjetunion zu reden. "Die Menschen riefen 'Ukraine ohne Moskau!' und 'Unabhängigkeit!'", erzählt Porowskyj. Drei Tage später sei Sobtschak im ukrainischen Parlament ans Mikrofon getreten und habe gesagt: "Die ganze Ukraine ist für die Unabhängigkeit, ich habe es mit eigenen Augen gesehen."
"Meine Pflicht als Bürger habe ich erfüllt"
Im Jahr 2014, als der russisch-ukrainische Krieg im Osten der Ukraine begann, war Porowskyj 58 Jahre alt und hätte nicht mehr zur Armee gemusst. Aber der Reserveoffizier machte sich auf, die Einberufungsämter von sich zu überzeugen. "Ich habe viel Zeit damit verbracht, über die Liebe zur Ukraine, über Hingabe und Selbstaufopferung zu reden. Ich wollte für mein Land da sein", betont er. Zunächst diente Porowskyj in einer Artillerie-Brigade und wurde dann stellvertretender Kommandeur einer Spezialeinheit.
Aber Porowskyj, der sich im Rang eines Obersts letztlich altersbedingt aus den Reihen der ukrainischen Streitkräfte zurückzog, hält sich nicht für einen Helden. "Ich glaube an die ukrainische nationale Idee und mein Schicksal ist mit der ukrainischen Staatlichkeit verbunden. Meine Pflicht als Bürger habe ich erfüllt", sagt er.
Auch in diesem Jahr wird Mykola Porowskyj am 24. August zusammen mit einstigen Kameraden, allesamt Veteranen, zum Unabhängigkeitsplatz in Kiew kommen. Dort, auf dem Maidan, hat er an drei Revolutionen teilgenommen - an der "Revolution auf Granit", einem Studentenprotest im Oktober 1990, an der "Orange Revolution" 2004 und an der "Revolution der Würde" 2013/2014, auch "Euromaidan" genannt. Von diesem größten Platz mitten in der ukrainischen Hauptstadt zog er in den Krieg. Porowskyj sagt: "Da hat alles begonnen und dorthin werden wir kommen."
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk