1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Kinderbuchautorin Judith Kerr zum 100.

Susanne Spröer
14. Juni 2023

Schulkinder lesen ihre Bücher, lieben Kater Mog und staunen über das "rosa Kaninchen". 1933 floh Judith Kerr mit ihrer Familie vor den Nazis. 2017 trafen wir die Autorin, die am 14.6. 100 Jahre alt geworden wäre.

Judith Kerr
Judith Kerr (1923-2019)Bild: Gareth Fuller/PA Wire/empics/picture alliance

Sommer 2017: Judith Kerr ist ganz englische Lady, als erstes bittet sie zum Tee. Und so sitze ich ihr auf einem gemütlichen Sessel in ihrem Londoner Wohnzimmer gegenüber: Eine zierliche alte Dame im eleganten blauen Kleid, mit Perlenkette, die weißen Locken sorgfältig frisiert. Alle fünf Minuten rauscht ein Flugzeug über uns hinweg - hier im Londoner Süden, in der Einflugschneise des Flughafens Heathrow, hat Judith Kerr über ein halbes Jahrhundert gewohnt, bis sie 2019 im Alter von fast 96 Jahren gestorben ist.

Eine unauffällige Nachbarin 

Sie lebte hier gemeinsam mit ihrer großen Liebe, ihrem Mann Nigel Kneale, dem Vater ihrer zwei Kinder - bis er im Jahr 2006 starb. Sohn und Tochter sind hier aufgewachsen, in einem typisch englischen Backstein-Häuschen mit gepflegtem Vorgarten samt Rhododendronbüschen und Blumenbeeten - genauso gemütlich-unauffällig wie die Nachbarhäuser. Dass dies das Haus einer weltbekannten Bestsellerautorin ist, deren Bücher in über 20 Sprachen übersetzt und mehr als 10 Millionen Mal verkauft wurden: nicht zu sehen.

Schon als Kind zeichnet Judith Kerr leidenschaftlich gern: Zeichnung um 1932-38Bild: Judith Kerr/Seven Stories

Ihre Leidenschaft: Kinderbücher zeichnen und schreiben

Fast ein Jahr lang haben wir versucht, für unser Film-Special "Nach der Flucht" einen Interviewtermin bei Judith Kerr zu bekommen. Gar nicht so leicht - denn am liebsten schreibt und zeichnet sie Kinderbücher. Und veröffentlicht ein Buch nach dem anderen: Rund ein Jahr nach "Ein Seehund für Herrn Albert" (2016) ist 2017 "Katinka's Tail" erschienen. Darin steht erneut eine ihrer eigenen Katzen im Mittelpunkt - wie bereits in der erfolgreichen Reihe um Kater Mog. Klar, dass uns auch bei unserem Besuch eine Katze um die Beine streicht.

Welterfolg: Judith Kerrs autobiographische RomantrilogieBild: Ravensburger

"Als Hitler das rosa Kaninchen stahl"

Weltberühmt gemacht hat Judith Kerr aber ein Roman, in dem Katzen keine Rolle spielen: "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl".

Er erzählt, wie ein kleines Mädchen mit seiner Familie 1933 vor den Nazis aus Deutschland flieht - es ist Judith Kerrs eigene Geschichte. Wie viel Wahrheit im Roman stecke, frage ich sie. "Alles Wichtige ist genauso gewesen, ich habe es so ehrlich geschrieben, wie ich konnte", antwortet sie. "Wenn man in der ersten Person schreibt, dann muss alles genauso sein, wie es war - sonst schummelt man."

Plötzliches Ende einer glücklichen Kindheit in Berlin-Grunewald

Geboren wird Judith Kerr am 14. Juni 1923 in Berlin. Ihre Eltern sind Alfred Kerr, der wichtigste Theaterkritiker der Weimarer Republik, und seine Frau Julia, geborene Weismann, eine Komponistin. Alfred Kerr ist ein entschiedener Gegner Adolf Hitlers, dessen nationalsozialistische Partei Anfang der 1930er Jahre immer mehr Anhänger gewinnt. Außerdem ist er Jude. Als Hitler im Januar 1933 Reichskanzler wird, flieht Alfred Kerr nach Prag. In einer Nacht- und Nebelaktion verlassen im März auch Judith, ihr zwei Jahre älterer Bruder Michael und ihre Mutter das schöne Haus im idyllischen Berliner Grunewald - kurz bevor die Geheimpolizei ihre Pässe einzuziehen versucht. In der Schweiz treffen sie sich mit dem Vater. 

Judith Kerr mit ihrem Vater Alfred Kerr um 1931-34Bild: Archiv der Akademie der Künste

"Chuchichäschtli" und wieder ein Umzug

Hier lernt Judith ihre erste "Fremdsprache": Schwyzerdütsch, Schweizerdeutsch. "Die anderen Kinder haben mich in der Schule immer geprüft, ob ich das kann. Die Prüfung war das Wort 'Chuchichäschtli' - Küchenschrank." Doch die Schweiz bleibt nur Zwischenstation. Gerade als die Kinder sich an die neue Umgebung gewöhnt haben, kommt der nächste Umzug: Über Südfrankreich geht es 1934 nach Paris, wo mittlerweile viele deutsche Flüchtlinge leben. Hier hofft Alfred Kerr auf Aufträge, die in der Schweiz ausgeblieben sind. Judith versteht kein Wort Französisch, aber sie beißt sich durch, lernt die Sprache so schnell, dass sie schon nach einem Jahr die Abschlussprüfungen in der Schule glänzend besteht. 

"Ist es nicht herrlich, Flüchtling zu sein!"

Einmal, erinnert sich Judith Kerr, blickt sie mit dem Vater vom Balkon ihrer kleinen Dachwohnung - ganz oben ist es billiger - über die Dächer von Paris. "Und da soll ich zu meinem Vater gesagt haben: 'Ist es nicht herrlich, ein Flüchtling zu sein!'" Judith Kerr lächelt. "Das muss ihn aufgeheitert haben. Denn es war ja für meine Eltern unglaublich schwer. Aber sie haben es so gemacht, dass wir sehr wenig davon gemerkt haben." Dass ihre Mutter damals Selbstmordgedanken hat und die Kinder mit in den Tod nehmen will, erfährt sie erst Jahrzehnte später, als sie den Briefwechsel ihrer Eltern sortiert. "Ich sah das Datum auf dem Brief und dachte: Da hatte ich doch gerade Französisch gelernt. Das wäre doch wirklich sehr ärgerlich gewesen, wenn ich da umgekommen wäre, gerade als ich Französisch konnte." Feiner, tiefschwarzer britischer Humor. 

Auch in Paris bleiben die Aufträge für den Vater aus. Judith Kerrs Mutter hat Selbstmordgedanken Bild: Fotolia/ThorstenSchmitt

Ein Zuhause voller Geborgenheit - sogar auf der Flucht

Auch als 1935 der nächste Umzug folgt, gelingt es den Eltern, Judith und ihrem Bruder ein Zuhause voller Geborgenheit zu bieten. Diesmal geht es nach London - erneut in der Hoffnung auf einen Auftrag für den Vater. Mittlerweile ist das Ersparte so gut wie aufgebraucht, die Mutter hält die Familie mit Gelegenheitsjobs über Wasser, während der Vater in seinem Zimmer schreibt - Texte, die er fast nie verkaufen kann. Judith ist schon geübt im Sprachen lernen. Bald spricht die Familie Englisch miteinander. 

Judith (rechts) um 1935-1940 mit Mutter Julia und Bruder Michael in LondonBild: Archiv der Akademie der Künste

"Enemy Alien" oder Engländer?

Dann beginnt 1939 der Zweite Weltkrieg. Judith Kerr ist 17 Jahre alt, als die deutsche Luftwaffe London bombardiert. Sie arbeitet beim Roten Kreuz, organisiert die Verteilung von Kleidung für die britischen Soldaten. Eines Tages kommt ein Anruf aus Cambridge, wo ihr Bruder Jura studiert. Er ist als "Enemy Alien", als feindlicher Ausländer, festgenommen und interniert worden. Dass er als Jude vor den Nazis fliehen musste und darauf wartet, die britische Staatsangehörigkeit zu bekommen, hatte keine Rolle gespielt. Über Beziehungen gelingt es, Michael aus einem Lager auf der Isle of Man freizubekommen. Umgehend meldet er sich als Pilot bei der Royal Air Force und kämpft gegen die Deutschen. "Am Ende des Krieges war es mir ganz klar, dass dies mein Zuhause ist", sagt Judith Kerr. "Aber das war es natürlich nicht für unsere Eltern. Die haben nie irgendwo hingehört." 

Im Zweiten Weltkrieg bombardieren die Nazis Judith Kerrs neue Heimat LondonBild: Picture alliance/Photoshot

"Als Hitler das rosa Kaninchen stahl": Schullektüre in Deutschland

In ihrer autobiographischen Jugendroman-Trilogie (dem "Rosa Kaninchen" folgen noch zwei weitere Bände) schildert Judith Kerr eindrücklich, was Flucht und Neuanfang mit einer Familie machen. Schreiben kann sie darüber erst nach dem Tod der Eltern: Alfred Kerr stirbt 1948, ihre Mutter 1965. Da sind ihr Sohn und die Tochter etwa so alt wie Judith und ihr Bruder, als sie Deutschland 1933 verlassen mussten. "Und dann dachte ich, ich würde gerne für meine Kinder ein Buch schreiben, wie das damals war." Das "Rosa Kaninchen" erscheint 1971 und wird ein Welterfolg. In Deutschland gehört es zur Schullektüre, Oscar-Preisträgerin Caroline Link hat das Buch verfilmt. Aus der einen Stunde, die uns ihre Agentin für das Interview zugestanden hatte, sind fast zweieinhalb geworden. Judith Kerr ist eine wunderbare Erzählerin, wir haben ihr fasziniert zugehört. Auch sie schien Freude daran gehabt zu haben, uns aus ihrem Leben zu erzählen. Am Schluss filmen wir sie noch im Garten. Leicht gebückt, aber mit festen Schritten geht sie über den Rasen, steigt leichtfüßig über die Kamera- und Tonkabel, die wir durch ihr Esszimmer verlegt hatten. Die Flugzeuge sind draußen noch lauter zu hören, die Katze versteckt sich in den Büschen. Und wir haben vergessen, ein Erinnerungsfoto mit ihr zu machen. Als ich daran denke, haben wir das Kamera-Equipment schon im Teamwagen verstaut und Judith Kerr noch ein letztes Mal zugewinkt. Mit ihrer Agentin ist sie um die Ecke gebogen und in einer Häuserflucht verschwunden. Aber auch ohne Foto wird mir die Begegnung mit Judith Kerr für immer in Erinnerung bleiben. 

Die Flugzeuge stören nicht: Judith Kerr im Garten ihres Hauses im Londoner SüdenBild: DW/Frederick Rotkopf

Judith Kerr starb am 22. Mai 2019, gut zwei Jahre nach dieser Begegnung. Der vorliegende Text wurde erstmalig 2017 im Rahmen unseres DW-Specials "Nach der Flucht" veröffentlicht und am 14. Juni 2023 aktualisiert. Sie möchten hören, wie bewegend Judith Kerr über ihre Kindheit spricht?

Wie wird die Fremde zur Heimat?

02:41

This browser does not support the video element.

Hier finden Sie die TV-Dokumentation "Nach der Flucht" bei YouTube.

 

 

 

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen