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Die Kunst des Plagiiierens

Marc von Lüpke15. Juni 2013

Unser Wissen über die Antike haben wir fleißigen Abschreibern zu verdanken: Jahrhunderte lang kopierten Mönche antike Denker und Wissenschaftler. Klöster wurden so zu Orten des Wissens – aber auch der Kontrolle.

Burgundischer Schreiber Jean Miélot (Quelle: Wikimedia)

Angst herrschte im Römischen Reich: Gerüchte von barbarischen Kriegern zu Pferd verunsicherten die Menschen im 4. Jahrhundert nach Christus. "Hunnen" wurde dieses Volk genannt, das sich unaufhaltsam dem Römischen Imperium näherte. Aber auch andere Gefahren drohten. Seit Jahrzehnten musste Rom Krieg gegen germanische Stämme führen, die auf der Flucht vor diesem Reitervolk seine Grenzen verletzten.

Germanen und Römer waren sich spinnefeind, auch wenn sie den gemeinsamen Feind – eben besagte Hunnen im Jahr 451 besiegten. Eine Allianz von kurzer Dauer: Provinz für Provinz eroberten die Germanen während der Völkerwanderung. Mit den kriegerischen Eroberungen der Germanen 476 nach Christus ging jedoch nicht nur das Weströmische Reich unter. Auch das unersetzliche Wissen der antiken Welt über Philosophie, Medizin, Geschichte, Technik und Naturwissenschaften war fortan dem Vergessen geweiht.

Wissen in Gefahr

Antike Philosophen und Mathematiker, Ärzte und Ingenieure, Naturforscher und Geschichtsschreiber hatten ein gewaltiges Wissen zusammengetragen. Allein der römische Naturforscher Plinius der Ältere, der 79 nach Christus beim Ausbruch des Vesuvs starb, konnte in seiner Naturgeschichte namens "Naturalis historiae" stolz behaupten: "Zwanzigtausend merkwürdige Gegenstände, gesammelt durch das Lesen von etwa zweitausend Büchern … von Hundert der besten Schriftsteller, habe ich in 37 Büchern zusammengefasst".

Alarich, König der Westgoten, erstürmt Rom im Jahr 410Bild: picture-alliance/akg-images

Hinzu kamen die Werke zahlreicher Dichter, Komödien- und Tragödiendichter, die mit ihren Stücken die Menschen unterhalten hatten. Nun, während der germanischen Kriege, gingen ganze Bibliotheken mitsamt ihrer kostbaren Schriftrollen in Flammen auf. Und auch die Leser dieser Schriften, die gebildeten Römer, verschwanden – ihre Bücher wurden ein Opfer der Zeit.

Orte des Wissens

Es waren vor allem die mittelalterlichen Klöster, in denen einige der geretteten Bücher die Zeiten überdauerten. Vieles jedoch wurde zerstört oder vergessen. Allein die Römische Geschichte des Historikers Titus Livius, die ursprünglich 142 Bände umfasste, ging zu drei Vierteln verloren. Gelehrsamkeit und Bildung wurden in den Klöstern groß geschrieben. Der fränkische König Karl der Große verpflichtete 789 nach Christus sogar alle Klöster zur Einrichtung von Klosterschulen. "Von der Notwendigkeit wissenschaftlicher Arbeit" hieß eine seiner königlichen Anordnungen.

Zu jeder Klosterschule gehörte ein sogenanntes Skriptorium. In diesen Schreibstuben kopierten Mönche die unersetzlichen Bücher immer und immer wieder. Und sorgten so für ihre Verbreitung, denn jedes neu gegründete Kloster erhielt vom Mutter-Kloster viele Schriften als Gabe. Eine Schreibstube war für ein Kloster jedoch weit mehr als nur eine praktische und notwendige Einrichtung. Sie war vor allem auch ein Statussymbol. Je bedeutender das Skriptorium war, desto bedeutender war das Kloster. Mit den wertvollen Büchern der Mönche ließ sich zudem auch Geld verdienen: Edelleute und Wohlhabende, die es sich als einzige Weltliche eisten konnten, bestellten sich bei den Klöstern neue Bücher.

Die Klöster bewahrten das Wissen der AntikeBild: picture-alliance/Arco Images

Kontrolle und Aufsicht

Allerdings war nicht jedes Buch frei zugänglich. Das Wissen und die Meinungen antiker Autoren, die der herrschenden christlichen Lehre widersprachen, wurden unter Verschluss gehalten. Denn Wissen war ebenso nützlich wie gefährlich, gerade wenn es von ansonsten verehrten antiken Philosophen stammte.

Daher gab es Bücher, die nur kleinen Zirkeln vorbehalten waren. Und so waren die Klöster nicht nur Orte des Bewahrens von Wissen – sondern auch Orte der Geheimhaltung. Generell wurde in der mittelalterlichen Gesellschaft eher altes Wissen bewahrt, als neue Erkenntnisse gesucht.

Ein Umweg über das Morgenland

Aber nicht nur in den christlichen Klöstern überdauerte ein Teil des antiken Wissens. Das kulturelle Erbe des Abendlandes nahm vielfach einen Umweg über den Orient. Dort waren viele Werke antiker Autoren bewahrt worden und wurden von islamischen Gelehrten eifrig studiert. Der Philosoph Aristoteles, der Arzt Galen oder auch der Mathematiker Archimedes – ihre Werke und die vieler weiterer Gelehrter und Schriftsteller hatten in arabischer Sprache überdauert.

Sobald die Kunde davon im Laufe des 11. Jahrhundert in das Abendland vordrang, machten sich christliche Gelehrte auf den Weg nach Spanien, das dreihundert Jahre zuvor von islamischen Mauren erobert worden war. Und die fleißigen Mönche in den Schreibstuben Mitteleuropas erhielten so neue Bücher, die sie kunst- und mühevoll immer wieder kopierten.

Ein kunstvolles Handwerk

Per Hand gingen die Mönche bei einem solchen Auftrag an die Arbeit. Zeile für Zeile, Wort für Wort schrieb ein Bruder ab, immer auf der Hut vor Fehlern. Das Original befand sich auf einem Pult direkt über ihm. Eine andere Weise, Schriften zu kopieren, gab es nicht. Unzählige mittelalterliche Bilder zeigen schreibende – oder besser gesagt: abschreibende – Mönche. Bisweilen las allerdings auch ein Mönch laut vor. Das kam vor, wenn mehrere Mönche das gleiche Buch kopierten.

Die Buchmalerei war eine Kunst für sich

Anstelle von Papier schrieben die Mönche die Werke auf Pergament nieder. Dieses haltbare und widerstandsfähige Material wurde aus der Haut von Tieren wie Schaf, Ziege oder Kälbern hergestellt. Wie die Tierhaut beschreibbar gemacht wurde, schildert ein mittelalterliches Buch: "Sie wird an die Sonne gestellt, damit alle Feuchtigkeit entweicht. Dann kommt das Messer und entfernt Fleisch und Haare, macht die Haut geschmeidig und fein. Sie wird in Buchform angepaßt."

Fast schon eine Wissenschaft für sich

Aber auch an die Tinte stellten die Mönche höchste Anforderungen. Ständig experimentierten sie an neuen Mixturen herum. Verschiedenste Farbtöne fanden sich in Behältnissen aus Rinderhörnern: Schwarz, Rot, Silber oder auch Gold.

Zum Schreiben selbst diente eine Gänsefeder. Nachdem die Feder stumpf geschrieben war, spitzte man sie per Messer wieder an. Nur so war die Schrift sauber und klar erkennbar. Allerdings ließen die Mönche beim Kopieren des Textes Platz auf der Seite für kunstvolle Illustrationen. Nachdem sie mit dem Kopieren fertig waren, begann schließlich die Arbeit der Buchmaler. Die Leerräume füllten sie mit prachtvollen Bildern, die aus wertvollen Materialien wie Gold bestanden.

Wahre Kunstwerke

So manch kunstvoll illustrierter Foliant ist ein Kunstwerk an sich. Ein besonders schönes Exemplar der Fertigkeit der Mönche ist in Wolfenbüttel zu Hause. In der Herzog August Bibliothek, die einst als die größte und bedeutendste Bibliothek nördlich der Alpen galt, befindet sich das Evangeliar Heinrichs des Löwens. Als sächsischer Herzog beauftragte er Benediktinermönche mit der Anfertigung dieser Kostbarkeit, die er im 12. Jahrhundert dem Braunschweiger Dom schenkte. In den 1980er Jahren bezahlte die Bundesregierung über 30 Millionen D-Mark für ihren Kauf. Es war bis dahin das teuerste Buch aller Zeiten.

Nur mit Vorsicht wird diese Handschrift aus dem 9. Jahrhundert berührtBild: picture-alliance/dpa

Wen es weiter weg zieht, kann in der Schweiz die älteste Bibliothek der Schweiz besuchen. Die Stiftsbibliothek St. Gallen verwahrt hunderte kostbarster mittelalterlicher Schriften – und ist bis heute eine öffentliche Leihbibliothek. Die mittelalterlichen Exemplare sind natürlich ausgeschlossen.

Viele Jahrhunderte übten sich die Mönche in den Klöstern in einem möglichst prächtigen Ausschmücken der Bücher. Bis um 1450 ein Deutscher namens Johannes Gutenberg den Buchdruck erfand – und die Mönche von ihrer Kopiertätigkeit befreite.