1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Als sich Boko Haram radikalisierte

Antonio Cascais
30. Juli 2019

Der Tod des Gründers von Boko Haram vor zehn Jahren markierte eine Zäsur in Nigeria: Die Organisation wurde von einer islamischen Sekte zu einer Terrororganisation, die den Rückhalt in der Bevölkerung teilweise verlor.

Nigeria Boko Haram - Kinder als Selbstmordattentäter
Bild: picture-alliancce/AP Photo/J. Ola

"Dies ist eine Nachricht an Präsident Goodluck Jonathan und an alle anderen Vertreter der Christen. Wir rufen zum heiligen Krieg auf! Wir werden die Christen bekämpfen, denn alle wissen, was sie den Muslimen angetan haben!" - So lautete die Botschaft, die der Boko-Haram-Anführer Abubakar Shekau im Juli 2010 im Internet verbreiten ließ. Die Organisation hatte begonnen, sich zu verändern.

Die Ursprünge Boko Harams

Die Geschichte von Boko Haram beginnt bereits elf Jahre zuvor in Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaats Borno. Nach der Demokratisierung Nigerias hofft die Bevölkerung auf ein Ende der allgegenwärtigen Korruption und auf eine gerechtere Verteilung des Reichtums. Zu diesem Zeitpunkt tritt ein junger Prediger namens Mohammed Yusuf in Erscheinung. Er fordert eine Anwendung islamischen Rechts sowie eine Abkehr vom westlichen Lebensstil. Seine Losung: "Westliche Lehren sind Sünde" (Haussa: "Boko Haram"). Die Unzufriedenheit des Volkes ist der Nährboden für die radikalen Thesen des Predigers, der sich zunächst aber gegen die Anwendung von Gewalt ausspricht.

Boko-Haram-Gründer Mohammed YusufBild: Screenshot Youtube

"Wir wollen den Islam verbreiten. Jeder hat das Recht, die Botschaft des Islam zu hören", predigt Yusuf. Doch seine Attacken gegen alle Nichtmuslime nehmen an Deutlichkeit zu: "Ich sage Euch: Die Ungläubigen sind Lügner. Sie tun alles, um an die Macht zu kommen. Sie versprechen viel und reden von Frieden, aber in Wahrheit sind sie unerbittlich."

Yusufs Bewegung gewinnt großen Zulauf, vor allem in den Nordoststaaten Borno, Adamawa und Yobe. Anfang 2009 sind Konfrontationen mit den Sicherheitskräften im Zuge von Demonstrationen in allen bedeutenden Städten an der Tagesordnung. Für den nigerianischen Staat wird Yusuf zunehmend zur Bedrohung.

Der Tod des Gründers Mohammed Yusuf

Nach dem Verbot einer Boko-Haram-Demonstration brechen Ende Juli 2009 in der Stadt Bauchi Unruhen aus, die sich auf Yobe, Borno und andere Regionen ausweiten. Bei mehrtägigen Zusammenstößen sterben alleine in Maiduguri, der Hauptstadt Bornos, ab dem 26. Juli mindestens 300 Menschen.

Die nigerianische Regierung reagiert mit einer großangelegten Polizeiaktion, bei der auch Sektenführer Mohammed Yusuf verhaftet wird. Am 30. Juli 2009 wird er nach Angaben eines Polizeisprechers bei einem Fluchtversuch von Sicherheitskräften erschossen. Es gibt Berichte über illegale Hinrichtungen von Sektenmitgliedern durch die Polizei.

Nachfolger Abubakar ShekauBild: picture-alliance/AP Photo

Zu diesem Zeitpunkt hat Yusuf bereits einen Nachfolger benannt: Abubakar Shekau. Unter ihm beginnt Boko Haram einen unerbittlichen "Heiligen Krieg" gegen den nigerianischen Staat. Die Sekte agiert ab jetzt im Untergrund. Es ist der Beginn einer neuen Dimension des Terrors, mit vielen Selbstmordattentaten, unter anderem auf das Hauptquartier der Polizei in der Hauptstadt Abuja. Mit immer brutaleren Anschlägen, die sich immer öfter gegen Zivilisten richten, verbreitet Boko Haram Angst und Terror. Binnen zehn Jahren sterben rund 32.000 Menschen, mehr als zwei Millionen werden aus ihrer Heimat vertrieben.

Gewaltspirale: Jugendliche gründen Bürgerwehren

Große Teile der Zivilgesellschaft werfen der Regierung und dem Militär vor, nicht in der Lage zu sein, die Sicherheit der Bevölkerung zu garantieren. 2013 beschließt eine Gruppe von Jugendlichen aus Maiduguri, den Schutz der Bevölkerung in die eigenen Hände zu nehmen. Sie gründen die Bürgerwehr CJTF, die "Civilian Joint Task Force", deren Ziel ist, die islamistischen Kämpfer aus ihren Städten zu vertreiben. Die Jugendlichen bewaffnen sich mit Gewehren, aber auch mit Dolchen, Buschmessern, Stöcken und Eisenstangen.

Routinekontrolle der Bürgermiliz CJTF im April 2017Bild: AFP/Getty Images/F. Plaucheur

Auch Frauen sind willkommen. "Ich habe mich entschieden, mich der Gruppe anzuschließen, weil mein Mann, ein Polizist, von Boko Haram brutal getötet wurde und mich mit fünf Kindern zurückließ", sagt Altine Abdullahi, eine der weiblichen Kämpferinnen und Gründungsmitglied der CJTF, im DW-Interview.

Nach Schätzungen von Beobachtern zählt die Gruppe inzwischen über 26.000 Mitglieder, von denen 1800 ein Gehalt von circa 50 US-Dollar pro Monat erhalten. Seitdem hat die CJTF etwa 600 Opfer zu beklagen. Es ist ihr dabei aber gelungen, Boko Haram aus der Metropole Maiduguri und anderen größeren Städten weitgehend zu vertreiben. Aber auch der CJTF werden immer wieder Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, unter anderem Misshandlungen und willkürliche Erschießungen von vermeintlichen Boko-Haram-Kämpfern.

Trotz aller Kritik betonen Sicherheitsexperten und Anwohner übereinstimmend den Erfolg der Bürgerwehr. "Der Einsatz der Jugendlichen hat sich auf jeden Fall gelohnt, die Menschen können sich jetzt in den meisten Städten ohne Angst von einem Punkt zum anderen bewegen. Die Jugendlichen kennen sich vor Ort einfach besser aus als die Soldaten der nigerianischen Armee, von denen die meisten aus anderen Staaten entsandt wurden", bestätigt Elizabeth Ame, eine Bewohnerin Maiduguris, im DW-Gespräch

.Lesen Sie auch: Wie der Kampf gegen den Klimawandel den Terrorismus bremst

Muhammadu Buharis Militäroffensive

Auch die Regierung setzt zunehmend auf Konfrontation mit Boko Haram: 2015 setzt sich Muhammadu Buhari - selbst ein ehemaliger General der nigerianischen Streitkräfte - bei den Präsidentschaftswahlen gegen Goodluck Jonathan durch und verspricht, die Terrororganisation binnen zwei Jahren zu besiegen.

"Wunderbar! Diese Schlange haben wir getötet!" - "Sieh dich mal um, Baba!" Auch Präsident Buharis Durchgreifen gegen Boko Haram war nur ein Sieg auf ZeitBild: DW

Tatsächlich gelingt es dem nigerianischen Militär, mit Hilfe von internationalen
Truppen aus den Nachbarländern Tschad, Niger und Kamerun, Boko Haram in die Defensive zu drängen. Weite Teile des Bundesstaats Borno, die sich noch Anfang 2015 unter Kontrolle der Dschihadisten befinden, können so befreit werden.

Inzwischen sehen Sicherheitsexperten Buharis Ankündigung weitaus skeptischer: "Das Ende von Boko Haram anzukündigen, ist einfach, konkrete Erfolge sind weitaus schwerer zu erzielen", sagt Yome Dare, ein ehemaliger Offizier der nigerianischen Armee. "Es geht hier um einen sehr hässlichen Krieg, und damit sollte man nicht spielen."

Tatsächlich scheint Boko Haram in den letzten Monaten wieder an Stärke und Terrain zu gewinnen. Die Boko-Haram-Kämpfer haben ihre Waffenarsenale aufgestockt. Laut Beobachtern kommen die Waffen vor allem aus Libyen und möglicherweise auch von ehemaligen IS-Bastionen. Ende 2018 (am 27. Dezember 2018) demonstrierte die Organisation ihre militärische Stärke, als sie 500 Soldaten der regionalen Antiterrorkoalition aus ihrem Hauptquartier in Baga in die Flucht schlug und die Stadt kurzfristig unter ihre Kontrolle bringen konnte.

Demoralisierte Armee

In den letzten Monaten habe sich die Sicherheitslage in Nigeria rapide verschlechtert, bestätigt Yome Dare gegenüber der DW: "Die Moral der Truppen ist niedrig. Die Soldaten stoßen an ihre Grenzen." Sie seien müde, demotiviert und schlecht ausgerüstet, erläutert der Sicherheitsexperte. "Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass Regierung und Militärführung sicherstellen, dass die Ausrüstung, die für die Soldaten an der Front bestimmt ist, auch tatsächlich bei den Soldaten ankommt."

Auch die verstärkte Militärpräsenz konnte die Rebellion nicht bezwingenBild: picture-alliance/AP Photo/L. Oyekanmi

Im vergangenen Jahr berichteten nigerianische Medien von mehreren Demonstrationen frustrierter Soldaten der nigerianische Armee: Im August 2018 sollen Hunderte Militärs auf der Landebahn des Flughafens Maiduguri mit ihren Waffen in die Luft gefeuert haben, um ihre Erschöpfung nach vier Jahren an der Front zum Ausdruck zu bringen. Ihre Botschaft: "Seit Jahren sind wir weit weg von unseren Familien und kommen dennoch im Kampf gegen die Dschihadisten kaum einen Schritt voran."

Mitarbeit: Al-Amin Suleiman Mohammed (Maiduguri)