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PolitikNahost

Ständig am Abgrund: Libyen zehn Jahre nach dem Tod Gaddafis

19. Oktober 2021

Vor zehn Jahren wurde der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi getötet. Seitdem kommt das Land aus der Krise nicht mehr heraus. Selbst die für Dezember angesetzten Parlamentswahlen wurden verschoben.

Libyen Führer Muammar al-Gaddafi
Hass auf den Diktator: Proteste von Exil-Libyern 2011 in Ankara (Archivbild)Bild: ADEM ALTAN/AFP/Getty Images

"Wir verkünden der Welt, dass Gaddafi in den Händen der Revolution gestorben ist. Das ist das Ende von Tyrannei und Diktatur in Libyen."

Es waren optimistische Worte, mit denen Abdel Hafez Ghoga, der Sprecher des Nationalen Übergangsrates (NTC), vor zehn Jahren, am 20. Oktober 2011, den Tod des libyschen Gewaltherrschers Muammar al-Gaddafi verkündete. Mehrere Monate zuvor, im Februar 2011, hatten sich die Libyer, animiert vom Aufstand im benachbarten Tunesien, gegen das Regime ihres seit 1969 amtierenden, durch einen Putsch an die Macht gekommenen Staatsoberhaupts erhoben.

Die Rebellen hatten starke Verbündete: Im März hatten die Vereinten Nationen ihre Zustimmung zu einem Militäreinsatz gegeben. Dadurch sollte insbesondere die Zivilbevölkerung geschützt werden. Die dann von der NATO gegen Gaddafis Militär unternommenen Angriffe trugen erheblich zur Schwächung des Diktators bei.

Blutiges Ende

Nach Monaten der Flucht versteckte dieser sich zuletzt in der Stadt Sirte im Norden des Landes, rund 450 Kilometer östlich von Tripolis. Von Gegnern eingekreist, versuchte der für seine exzentrischen Auftritte bekannte "Revolutionsführer" durch einen Abwasserkanal zu entkommen, wurde aber gefasst. Die Rebellen töteten ihn umgehend und brutal, ein Foto der blutverschmierten Leiche ging um die Welt.

Die Unzufriedenheit weiter Bevölkerungskreise mit Gaddafis Willkür-Regime hatte einerseits wirtschaftliche und soziale Gründe wie der Anstieg der Lebensmittelpreise sowie eine extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit, meint Hager Ali, Research Fellow und Libyen-Expertin am GIGA Institute for Middle East Studies in Hamburg. Hinzu kamen jedoch von Beginn an Forderungen nach Demokratie und einem Ende bestehender sowie nach Aufklärung früherer schwerer Menschenrechtsverletzungen, darunter das Massaker im Abu-Salim-Gefängnis 1996 in Tripolis, bei dem zwischen 1200 und 1700 Insassen getötet wurden. "Dieses Verbrechen war bezeichnend für die Zeit unter Gaddafi", sagt Hager Ali.

Vergebliche Flucht: das Kanalrohr, in dem Gaddafi nach Darstellung der Rebellen gefunden wurdeBild: picture alliance/dpa

Hoffnung auf Neuanfang

Umso größer waren die teils euphorischen Hoffnungen auf einen Neuanfang, doch auch schon damals gab es mahnende Worte. So warnte der damalige UN-Generalsekretär Ban Ki Moon: "Der vor Libyen und seiner Bevölkerung liegende Weg wird schwierig und voller Herausforderungen sein." Alle Libyer müssten gemeinsam daran mitwirken. "Die Libyer können das Versprechen der Zukunft nur durch nationale Einheit und Versöhnung verwirklichen", mahnte Ban Ki Moon.

Doch dies blieb ein frommer Wunsch. Die Wirren des Aufstands mündeten 2014 in einen jahrelangen Bürgerkrieg.

Geeint nur im Aufstand

"Dessen Ursachen lagen ganz wesentlich im Machtapparat, den Gaddafi aufgebaut hatte", sagt Hager Ali. Tatsächlich war eine von Gaddafis größten Sorgen die vor einem Militäraufstand. Seine Schutzstrategie bestand darin, hohe Ränge an sich zu binden und sie - wie auch Familienmitglieder - auf strategisch wichtige Positionen zu setzen. "Auch kaufte er sich Schutz durch ausländische Söldner, während er die unteren Ränge der libyschen Armee von der Macht fernhielt", so Ali. Dadurch entstanden Rivalitäten, die auch Jahre nach dem Tod des Diktators anhielten, zusätzlich zu Interessenkonflikten auf Ebene der Regionen und Stämme.

Während des Aufstands waren die unterschiedlichen Gruppen kurzfristig zwar durch den Wunsch geeint, Gaddafi zu stürzen. Doch nach seinem Fall zerbrachen die Allianzen. "Das lag auch daran, dass es keine funktionierende zivile politische Arena gab, in der Differenzen aufgearbeitet und verhandelt werden konnten", sagt Hager Ali. Auch mehrfache Wahlen brachten keine nationale Einheit hervor. 

Erbitterte Konkurrenten über Jahre: Kommandant Chalifa Haftar (l.) und der ehemalige Premierminister Fajis as-Sarradsch

Gescheiterter Staat

In der Folge erlebte Libyen das typische Schicksal gescheiterter Staaten: Die Staatsmacht zerfiel. Bald gab es zwei Regierungen: eine in der Hauptstadt Tripolis, die andere in der Küstenstadt Tobruk im äußersten Osten des Landes. Um ihre Interessen zu wahren oder durchzusetzen, griffen immer mehr ausländische Akteure in den Bürgerkrieg ein, darunter Russland, die Türkei, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Von ausländischen Staaten finanzierte Söldnertruppen halten sich in Teilen bis heute in dem Land auf. 

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan etwa versuchte über ein Bündnis mit dem seinerzeitigen international anerkannten Regierungschef Fajis al-Sarradsch, türkische Ansprüche auf Gasvorkommen im Mittelmeer durchzusetzen. Russland, Ägypten und die VAE hingegen unterstützte die so genannte Exilregierung in Tobruk, die mit dem mächtigen, inzwischen aber zurückgetretenen Kommandanten Chalifa Haftar verbunden ist. Durch die Zusammenarbeit mit ihm hoffte vor allem die Regierung in Kairo, der islamistischen Kräfte, insbesondere der Muslimbrüder, Herr zu werden. Die Europäer wiederum waren von Beginn an vor allem daran interessiert, über Libyen einreisende Migranten und Flüchtlinge fernzuhalten. Der deutsche Außenminister Heiko Maas erklärte auch deshalb im Februar 2020, es komme darauf an, Libyens Nachbarstaaten in Gespräche mit einzubeziehen.

Deutsche Lösungsversuche

Entsprechend zahlreich waren die Initiativen, den mit vielen Menschenrechtsverletzungen verbundenen Krieg zu beenden und in dem Land eine neue Stabilität zu etablieren. Mehrere UN-Sondergesandte versuchten die Kriegsgegner an einen Tisch zu bringen, was schließlich im Rahmen mehrerer Initiativen gelang - unter anderem durch zwei von Deutschland organisierte Libyen-Konferenzen in Berlin 2020 und 2021. Im Februar dieses Jahres einigten sich die libyschen Akteure auf den Politiker Abdul Hamid Dbeiba als Interimspremier. Unter seiner Ägide sollten die für Dezember dieses Jahres Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vorbereitet werden. Doch die Parlamentswahlen wurden erst kürzlich wieder um einen Monat verschoben. Die ersehnte Versöhnung - sie kommt bisher allenfalls schleppend voran.

Unterstützung durch Moderation: Deutschlands Außenminister Heiko Maas (r.) im Gespräch mit dem libyschen Interims-Premier Abdul Hamid Dbeiba im Juni 2021 in BerlinBild: Michael Sohn/AFP

Viele Probleme des Landes seien weiterhin ungelöst, meint auch Hager Ali. Zu den grundlegenden Herausforderungen einer künftigen Regierung zähle etwa die Kontrolle über die Armee und andere bewaffnete Kräfte. "Es besteht die Gefahr, dass die Streitkräfte nicht oder nur ungenügend kontrolliert sind und sich nicht an Befehle halten werden", so die Expertin. Zudem gebe es weiterhin mehrere hoch bewaffnete Gruppen,die sich über jeden Wahlausgang hinwegsetzen könnten. Demokratie, Stabilität und Unabhängigkeit von äußeren Mächten bleiben in Libyen auch zehn Jahre nach Gaddafis Tod einstweilen eine eher ferne Zukunftsvision.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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