1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

EU: Zusammenhalt durch Abschottung

Rahel Klein
26. Juni 2018

Mittelmeerstaaten fühlen sich bei der Flüchtlingsverteilung von der EU im Stich gelassen. Fragen an Migrationsforscher Jochen Oltmer und ein Blick in die Statistik, wer wirklich die Hauptlast trägt und wie es weitergeht.

Spanien Malaga 55 gerettete Migranten
Bild: Reuters/J. Nazca

Deutsche Welle: Herr Oltmer, welche Länder in Europa tragen wirklich die Hauptlast bei der Aufnahme von Flüchtlingen?

Jochen Oltmer: Man muss sich immer vor Augen führen, dass Gesamtzahlen, die in diesem Kontext gern geboten werden, relativ wenig bringen, weil sich die Bevölkerungszahlen der europäischen Länder ja in hohem Grad unterscheiden. Es wird auch oft richtig darauf verwiesen, dass man auch noch nach dem jeweiligen Wohlstandsniveau unterscheiden müsste. Wenn man das alles tut, dann kommt man sicherlich zu der Überzeugung, dass einige Staaten - insbesondere am Mittelmeer - in den vergangenen Jahren besonders stark betroffen gewesen sind.

Wenn man sich beispielsweise die Daten der europäischen Statistikbehörde für das Jahr 2017 ansieht, dann sieht man ganz weit vorne an der Spitze - was die Asylbewerber je Million Einwohner angeht - Griechenland. Es folgen Zypern, Luxemburg und Malta. Und die Staaten, die wir vor allen Dingen jetzt in der aktuellen Diskussion in den Blick nehmen, die kommen dann erst später - Österreich und Deutschland beispielsweise.

Wenn man sich die Asyl-Erstanträge ansieht, dann war beispielsweise Italien in den vergangenen Jahren gar nicht so weit oben. Würden Sie sagen, dass die lauten Töne, die aktuell aus Italien kommen, trotzdem gerechtfertigt sind?

Ich denke, man kann schon davon sprechen, dass Italien in den vergangenen Jahren ein wichtiges Zielland für Menschen war, die in Europa Asyl gesucht haben. Das hatte insbesondere damit zu tun, dass sehr viele Bewegungen über das Mittelmeer gelaufen sind - wenngleich Griechenland durchgängig eine größere Bedeutung hatte.

Wir müssen uns aber auch immer vor Augen führen, auf welche Art und Weise politisch mit dem Thema Asyl umgegangen wird. Und die Dublin-Regelungen, die seit den 1990er Jahren entwickelt worden sind, sind insbesondere seit 2007/2008, als die globale Finanzkrise begann, umstritten. Viele Mittelmeeranrainer, die zuletzt stark von Asylanträgen betroffen waren, beklagen, dass mit den Dublin-Regelungen ganz explizit politisch gewollte Ungleichgewichte erzeugt werden.

Hat Europa die Mittelmeerstaaten wie Italien und Griechenland also wirklich alleingelassen, wie die Länder selbst oft behaupten?

Das kann man pauschal so nicht sagen, weil wir wissen, dass insbesondere 2015/16 viele Bewegungen, die Europa zunächst in Griechenland oder Italien erreichten, schließlich in Österreich, Deutschland und Schweden landeten. Aber: Auf der Ebene des Rechts sind am Ende Staaten wie Italien oder Griechenland diejenigen, die sich um die Asylanträge zu kümmern haben. Das heißt, die aktuellen Diskussionen gehen weniger um die Frage, welches Schiff jetzt aktuell wo landet, sondern es geht explizit um die Frage, auf welche Art und Weise Dublin in diesem Zusammenhang reformiert werden und wie auf längere Sicht ein Beitrag dazu geleistet werden kann, dass diese durch Dublin erzeugten Ungleichgewichte ausgeglichen werden können.

Wie müsste denn eine gerechte europäische Flüchtlingspolitik aussehen? Würde die das Ende von "Dublin" bedeuten?

Ja, oder zumindest würde es um eine Modifikation dieser Dublin-Regelungen gehen. Die Dublin-Regeln waren eine Reaktion auf Ungleichgewichte in den 90er Jahren. Man wollte damals von europäischer Seite verhindern, dass Flüchtlinge überhaupt keine Chance haben, in irgendeinem europäischen Land Asyl zu bekommen. Und man wollte auch verhindern, dass es so etwas gibt wie in den 90er Jahren das "Asylshopping", dass Asylsuchende sich irgendein Land aussuchen können.

Das Problem ist: In der Zwischenzeit ist die Europäische Union gewachsen, heute ist nur noch ein kleiner Teil der EU ein Grenzstaat. Das heißt, die Konstellation in Europa hat sich geändert, ohne dass eine Anpassung der Dublin-Regelungen ermöglicht worden ist. Ich denke, es ist einfach an der Zeit, andere Regelungen zu fassen und ganz explizit zu versuchen, eine Gleichbehandlung der verschiedenen Länder herbeizuführen.

Glauben Sie, dass sich die Länder beim EU-Gipfel diese Woche auf etwas werden einigen können?

Die europäischen Länder haben sich in den vergangenen Jahren sehr gut auf Maßnahmen zur Abschottung einigen können - Grenzsicherungsmaßnahmen oder den Ausbau von Frontex. Oder die Perspektive, mit Staaten außerhalb der EU, insbesondere in Afrika, Verträge einzugehen, um zu verhindern, dass überhaupt potentielle Asylsuchende europäische Grenzen erreichen können. Diese Bemühungen sind deutlich angewachsen, hier gibt es letztlich kein Problem mit Blick auf die Zusammenarbeit.

Die Probleme gibt es bei den Asylsuchenden, die sich in der EU befinden. Und da sehen wir, dass die Neigung, Asylsuchende aufzunehmen, in hohem Grad unterschiedlich ausgeprägt ist. Und ich sehe nicht, dass sich da fundamentale Veränderungen ausmachen lassen. Das bedeutet aller Voraussicht nach, dass sich die EU in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten vor allem mit der Frage einer weiteren Abgrenzung Europas auseinandersetzen wird. Dass das Bemühen steigen wird, Verträge mit anderen Staaten jenseits europäischer Grenzen zu schaffen, und auf diese Weise einen Beitrag zu leisten, dass am Ende möglichst niemand europäische Grenzen erreicht und von daher diese Verteilungsproblematik in Europa auch gar nicht auftaucht. Und ich denke, das geht sehr klar zu Lasten von Menschen, die vor Gewalt fliehen. Sie werden voraussichtlich deutlich weniger Möglichkeiten haben, Europa zu erreichen, als das in den vergangenen Jahren der Fall war.

Das heißt, die Europäische Union könnte sich und ihr Zusammengehörigkeitsgefühl durch die Abschottung nach außen quasi selbst retten?

Genau.

 

Jochen Oltmer ist Professor am Institut für Migrationsforschung an der Universität Osnabrück.

 

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen