Amerika ohne Manieren
17. September 2009"Wo bleibt die Höflichkeit?" fragte die auflagenstärkste US-amerikanische Tageszeitung. Mit diesem publizistischen Weckruf möchte sie die amerikanische Gesellschaft für einen Augenblick zur Besinnung bringen. Grund genug gibt es dafür. So unterbrach beim MTV-Video Award vor Millionen von Zuschauern Rapper Kanye West die hübsche Taylor Swift mit der Bemerkung, Beyoncé hätte den Preis für das beste weibliche Video weitaus mehr verdient als sie. Dieses Verhalten ist fast so schlimm, wie das des republikanischen Abgeordneten Joe Wilson. Dieser unterbrach kürzlich Präsident Barack Obama bei seiner Rede vor dem Kongress, indem er laut schrie, der Präsident sei ein Lügner. Ob das stimmt oder nicht, ist zweitrangig. So etwas sagt man einfach nicht.
Probleme mit der Wahrheit hat auf jeden Fall Tennisstar Serena Williams. Ihr eröffnete unlängst der Linienrichter, dass trotz ihres Stöhnens auf dem Court der Ball ins Aus ausgegangen sein. Daraufhin beschimpfte und bedrohte sie den Unparteiischen auf übelste Art und Weise. Lang ist es her, dass Tennis die Sportart war, die für Galanterie und Formvollendung stand. Frau Williams' miese Manieren hatten einen millionenfachen Nachhall bei Twitter sowie in Legionen von Blogs, was die Geschichte nicht gerade schöner macht. Immerhin gewann am Ende Kim Clijsters das Match. Wir wollen das als Akt höherer Gerechtigkeit werten. Schlechte Umgangsformen zahlen sich eben nicht aus, wie schon unsere Mütter einst sagten.
Jackie bleibt unerreicht
Wohin soll dieser Mangel an Formgefühl nur führen? Zu Rate ziehen könnte man in dieser Angelegenheit Letitia Baldrige, die auch von "USA Today" ehrfurchtsvoll als die große alte Dame der Umgangsformen bezeichnet wird. Einst war sie Mitarbeiterin von Jaqueline Kennedy, jener First Lady, die an Vornehmheit und Schicklichkeit unerreichbar bleibt. Letitia Baldrige wird in der amerikanischen Presse zitiert mit dem Ausspruch: "Es wird etwas passieren, was uns innehalten lässt, um unsere Benehmen zu überprüfen."
Was könnte das sein? Die halbherzige Entschuldigung von Rapper Kanye bei Taylor Swift in dessen Internetblog reicht sicher nicht aus. Gleiches gilt auch für Serena Williams' Pressekonferenz. Diese nuschelte etwas von "unangemessenem Verhalten". Echtes Bedauern klingt anders. Und so stehen wir am Ende etwas ratlos vor dem Aufmacher von "USA Today": Wo bleibt die Höflichkeit? Wir wissen es einfach nicht. Und ins Weiße Haus zu schauen, hilft inzwischen auch nicht weiter. Der Präsident hat, so wird berichtet, den unflätigen Rapper hinter verschlossenen Türen einen "Esel" genannt.
Autor: Miodrag Soric
Redaktion: Dirk Eckert