Amnesty International: Gut aufgestellt für die Zukunft?
28. Mai 2021"Es ist besser, eine Kerze anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen." Als Peter Benenson dies 1961 in einem Artikel schrieb, konnte er nicht ahnen, dass dieser Satz einmal zum Kodex von Amnesty International werden würde. Am 28. Mai 1961 veröffentlichte der Londoner Observer den Beitrag mit dem Titel "Die vergessenen Gefangenen" aus der Feder des britischen Anwalts. Beim Durchblättern der Morgenzeitungen war er auf eine Meldung über zwei portugiesische Studenten gestoßen, die festgenommen wurden, nachdem sie in einem Restaurant auf die Freiheit angestoßen hatten.
Empört über ihre Inhaftierung forderte Benenson ihre Freilassung und drängte die Leser, Briefe an die portugiesische Regierung zu schreiben. Aber er ging noch weiter. Sein Text listete auch andere Menschenrechtsverletzungen auf der ganzen Welt auf. Er verwendete den Begriff "Gewissensgefangene", um die Notlage "jeder Person hervorzuheben, die physisch daran gehindert wird (durch Inhaftierung oder anderweitig), ... eine Meinung zu äußern, die sie ehrlich vertritt und die keine persönliche Gewalt befürwortet oder duldet." Seine Kampagne "Appeal for Amnesty 1961" war quasi der Vorläufer für Amnesty International.
Der anfängliche Arbeitsschwerpunkt der Organisation - vergessene Gefangene - erweiterte sich allmählich im Rahmen ihrer Entwicklung "vom Mandat zur Mission." In den 1970er Jahren konzentrierte sie sich auf die Behandlung von Gefangenen in mehreren lateinamerikanischen Diktaturen und startete Kampagnen gegen Folter und die Todesstrafe. Für ihre Arbeit wurde die Organisation 1977 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
In den 1980er Jahren wandte sich Amnesty weiteren Themen zu, darunter außergerichtliche Tötungen und politische Morde. Gegen Ende des Jahrzehnts richtete sich die Aufmerksamkeit der Organisation auf die wachsende Zahl von Flüchtlingen in aller Welt.
Verlagerung des Schwerpunkts
In den 1990er Jahren konzentrierte sich Amnesty International auf bewaffnete Konflikte und deckte Gräueltaten in Osttimor, Ruanda und dem ehemaligen Jugoslawien auf. Ab den 2000er Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt auf wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeiten - ein Resultat der wachsenden Globalisierung.
"Amnesty International hat in den ersten Jahren Mechanismen der Bewusstseinsbildung entwickelt, indem wir mit Briefkampagnen an die Regierungen und die Öffentlichkeit appelliert haben", sagt Anja Mihr, ehemalige Vorsitzende von Amnesty International Deutschland. "Und deshalb war es in diesen ersten 30, 40, vielleicht sogar 50 Jahren nicht so wichtig, ob Amnesty International mit seinen Aktionen tatsächlich eine direkte Reaktion der Regierungen hervorrufen würde."
Die Welt hat sich seit diesen Zeiten dramatisch verändert, nicht zuletzt durch die Globalisierung und das Zeitalter der Informationstechnologie. "Ich bin mir nicht immer sicher, ob die ursprüngliche Stärke von Amnesty, gut zu recherchieren, Beweise zu haben, heute noch in demselben Maße gebraucht wird, da es so viele andere Einrichtungen gibt, die das tun. Wir haben andere Mittel, um herauszufinden, was vor Ort passiert. Wir brauchen dafür keine NGO mehr", sagt Mihr, die mittlerweile Programmdirektorin des Berliner HUMBOLDT-VIADRINA Center on Governance through Human Rights ist.
Nicht alles, was glänzt, ist Gold
Für Amnesty ist in den vergangenen 60 Jahren nicht immer alles glatt gelaufen. Amnesty behauptet, keine politische Ideologie zu verfolgen oder "eine Regierung oder ein System zu unterstützen oder zu bekämpfen". Doch Kritiker sagen, dass die Organisation genau das tut. Es gibt Vorwürfe einseitiger Berichterstattung oder der Nichtberücksichtigung von Sicherheitsbedrohungen als milderndem Faktor.
Teil des Problems sei, dass die Organisation immer noch in der Vergangenheit feststecke, sagt Stephen Hopgood, Professor für internationale Beziehungen an der SOAS University of London. Er hat sich auf die internationale Politik des Humanitarismus und der Menschenrechte spezialisiert und ist Autor des Buches "Keepers of the Flame: Understanding Amnesty International".
"Amnesty ist eine Organisation aus der Zeit des Kalten Krieges, und ausgehend von der Art und Weise, wie sie aufgebaut wurde und wie sie funktionierte, ist es in vielerlei Hinsicht ein Wunder, dass sie 60 Jahre lang überlebt hat", so Hopgood. "Das ist nicht einmal unbedingt ein Versagen von Amnesty. Das liegt eher an der Komplexität einer Welt, die sich sehr von der Welt der 1960er und 1970er Jahre unterscheidet."
Die Kritik richtet sich unter anderem gegen die angebliche außenpolitische Voreingenommenheit gegenüber nicht-westlichen Ländern oder nicht vom Westen unterstützten Ländern. Hopgood wendet ein, dass diese Beurteilung in die Perspektive der damaligen Zeit gestellt werden müsse. "Amnesty war eine der wenigen internationalen Organisationen, die sich für das Prinzip der Meinungsfreiheit einsetzten. Und sie versuchte, dies so fair und neutral zu tun, wie sie konnte, indem sie Gefangene aus Gewissensgründen aus dem Westen, aus dem Osten und aus den Entwicklungsländern auswählte", so Hopgood. "Es war in vielerlei Hinsicht eine sehr einfache Zeit, in der Amnesty sehen konnte, wer der Feind war, und der Feind waren autoritäre Regierungen."
Die Politik der Neutralität und Unparteilichkeit sei angesichts der heutigen komplexen Herausforderungen jedoch immer schwieriger aufrechtzuerhalten. "Nehmen wir den jüngsten Krieg zwischen der Hamas und Israel: Wenn man eine neutrale Position vertritt, ist die eine Reaktion zu sagen, dass es doch schrecklich ist, wenn unschuldige Zivilisten verletzt werden. Aber die Leute, die entweder stark pro-israelisch oder stark pro-palästinensisch sind, sehen das als eine Parteinahme für den Feind: Wenn du nicht mit uns bist, bist du gegen uns. Wie können die Verhältnisse gleich sein, wenn Israel so viel stärker bewaffnet ist und so viel mehr Kontrolle besitzt?", fragt Hopgood.
Die Ära hat sich verändert, in der die Menschenrechte in Konflikt- und Kriegssituationen als neutral angesehen wurden. Und bis zu einem gewissen Grad ist das in der heutigen Welt nicht mehr anwendbar, sagen Experten. "Die heutige Welt wird von der Mobilisierung der Bevölkerung zu einer ganzen Reihe von zutiefst problematischen und komplexen Themen wie Sexarbeit oder Abtreibung bestimmt... Beide Seiten fordern oft die Menschenrechte als Teil ihrer ideologischen oder ethischen Position ein."
Eine neue Ära der Prioritäten
Ein 2019 veröffentlichter Bericht stellte fest, dass Amnesty International ein "toxisches" Arbeitsumfeld hat, mit Vorfällen von Mobbing, öffentlicher Demütigung und Diskriminierung. Diese Probleme treten oft in komplexen und bürokratischen Organisationen auf, die Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven und Ethiken zusammenbringen.
In seinem Buch beschreibt Hopgood, wie persönliche Opfer für eine gute Sache ihren Tribut fordern können, wenn es kein unterstützendes Arbeitsumfeld gibt. "Menschen verbrachten oft zwei Monate damit, Gefangene, die gefoltert wurden, unter entsetzlichen Bedingungen zu interviewen." Von der psychischen Belastung, die damit einherging, habe in der zentralen Organisation lange Zeit niemand etwas hören wollen.
Eine spannende Frage ist, wie es Amnesty in den nächsten 60 Jahren ergehen wird. Klar ist: Die Rolle von Amnesty wird weiterhin von einer sich verändernden politischen Landschaft geprägt sein.
"Wie können wir den größten und stärksten Einfluss haben? Gilt immer noch, dass wir vor allem das Bewusstsein schärfen, indem wir vorwiegend an Regierungen appellieren? Sind diejenigen, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind und diejenigen, die die Situation vor Ort zugunsten der Menschenrechte verändern können, immer noch die gleichen Akteure wie vor 20 oder 40 Jahren?", fragt etwa Anja Mihr. "Ich würde sagen, nein. Ich denke, die Szenerie hat sich verändert. Und so müssen sich auch die Methoden von Amnesty an die aktuelle Situation anpassen."