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Amnesty-Jahresbericht: Iran und Russland am Pranger

28. März 2023

Amnesty International blickt zurück auf 2022. Im Mittelpunkt: der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Niederschlagung der Proteste im Iran.

Menschen wandern, eingehüllt in Decken, über einen Holzsteg
Auf der Flucht: Ukrainer in Irpin (2022)Bild: Wolfgang Schwan/AA/picture alliance

"2022 befanden sich weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie nie zuvor. Gleichzeitig gingen Millionen für ihre Rechte auf die Straße. Menschen fliehen und protestieren, weil ihr Leben bedroht ist, weil sie unterdrückt, verfolgt und entrechtet werden, und weil ihre Menschenrechte verletzt werden", sagt Markus N. Beeko, der Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland. Flucht und Protest - ein möglicher Titel für die Zustandsbeschreibung der weltweiten Menschenrechtslage im vergangenen Jahr.

Beeko nennt der DW Zahlen: In 20 der 156 untersuchten Länder dokumentierte Amnesty International Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, unter anderem durch russische Streitkräfte in der Ukraine. In 62 Ländern schränkten Regierungen die Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit ein. Und in 79 Ländern wurden Aktivisten und Aktivistinnen willkürlich festgenommen, viele davon gefoltert und misshandelt.

"Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshof gegen Putin ist wichtiges Signal gegen Straflosigkeit" - Markus N. BeekoBild: AI Deutschland

Doch einige Entwicklungen geben durchaus auch Anlass zur Hoffnung. "Beeindruckend sind der Mut und die Ausdauer der Menschen, die für Freiheit und Gerechtigkeit auf die Straße gehen, im Iran, in Peru, in Georgien oder anderswo. Eine positive Entwicklung ist auch, dass Staaten unbürokratisch Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen haben", sagt Beeko, "zudem zeigt die internationale Gemeinschaft mit Untersuchungen zu Menschenrechtsverletzungen in Syrien, Myanmar, der Ukraine und im Iran, dass sie die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen will."

Ukraine: Völkerrechtswidrige russische Aggression

Ob sich der russische Präsident Wladimir Putin jemals vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten muss, steht in den Sternen. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine würde auf alle Fälle genug Material für einen eigenen Jahresbericht von Amnesty International hergeben.

Janine Uhlmannsiek ist Referentin für Europa und Zentralasien bei Amnesty International in Deutschland. Sie sagt: "Russlands Einmarsch in die Ukraine stellt einen eklatanten Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen dar, ist ein Akt der Aggression und ein Völkerrechtsverbrechen. Ermittler und Ermittlerinnen von Amnesty International haben zahlreiche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dokumentiert, die von russischen Streitkräften verübt wurden."

Wird Putin für die Kriegsverbrechen in der Ukraine vor Gericht kommen?

05:11

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Uhlmannsiek zählt auf: der wahllose Angriff auf Wohngebiete, Krankenhäuser und Schulen durch das russische Militär. Der Einsatz von unterschiedslos wirkenden Waffen und verbotener Streumunition, mit insgesamt Tausenden zivilen Opfern. Verbrechen wie Folter, sexualisierte Gewalt und rechtswidrige Tötungen. Und die Verschleppung von zahlreichen Zivilpersonen in russisch besetzte Gebiete oder nach Russland. 

"In einem von Amnesty dokumentierten Fall wurde ein elfjähriger Junge von seiner Mutter getrennt. Wir haben auch Fälle dokumentiert, dass unbegleitete Kinder von Mariupol nach Donezk verschleppt wurden", sagt die Expertin der Menschenrechtsorganisation und verweist auf die parallelen politischen Maßnahmen in Russland: "Bei Kindern, die entweder als Waisen gelten oder ohne elterliche Fürsorge sind, wurde das Verfahren erleichtert, um die russische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Damit soll die Adoption der Kinder durch russische Familien erleichtert werden."

"Wichtig ist, dass die russische Führung merkt, dass die internationale Gemeinschaft nicht wegschaut" - Janine UhlmannsiekBild: Sarah Eick/Amnesty International

Dies alles sei eine bewusste Politik mit einem systematischen Charakter, und Teil eines umfassenden Angriffs auf die ukrainische Zivilbevölkerung. Wie auch der Einsatz von Gewalt gegen Frauen. Systematische Vergewaltigungen, die immer wieder in bewaffneten Konflikten verübt werden.

"Wir konnten mit einer Frau sprechen, die mehrfach von russischen Soldaten vergewaltigt wurde. Der Angriffskrieg hat schwerwiegende Auswirkungen auf Frauen, Mädchen und marginalisierte Bevölkerungsgruppen in der Ukraine und gefährdet ganz enorm ihre psychische, physische, sexuelle und reproduktive Gesundheit", sagt Uhlmannsiek, "gleichzeitig erhöht der Krieg auch das Risiko geschlechtsspezifischer Gewalt und verschärft das Risiko für Ausbeutung."

Russland: Brutale Unterdrückung von Demonstranten

Die Menschenrechtslage in Russland war schon vor dem 24. Februar 2022 dramatisch, hat sich seitdem aber noch weiter verschlechtert. Die Regierung gehe unerbittlich gegen diejenigen vor, die sich gegen den Krieg positionieren oder unabhängig darüber berichten. Amnesty International kommt auf die Einleitung von mehr als 100 Strafverfahren wegen des Vorwurfs der Diskreditierung und mindestens 180 wegen der Verbreitung angeblich wissentlich falscher Informationen.

"Es drohen hohe Geldstrafen und bis zu 15 Jahre Haft. Im letzten Jahr, im März 2022, wurden im Eiltempo neue Gesetze verabschiedet, welche die Diskreditierung der russischen Streitkräfte und die Verbreitung von vermeintlichen Falschinformationen über die Streitkräfte unter Strafe stellen", sagt Janine Uhlmannsiek, "in ihren Bestrebungen, das wahre Ausmaß der Zerstörung durch die Invasion der Ukraine zu verschleiern, geht die russische Führung wirklich mit aller Härte gegen kritische Stimmen und gegen unabhängige Medien vor."

Iran: Zunahme von Protesten trotz Repression

Neben dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine steht vor allem die Menschenrechtssituation im Iran im Mittelpunkt des Jahresberichtes von Amnesty International. Mit dem gewaltsamen Tod der 22-jährigen Kurdin Jina Mahsa Amini September 2022, der vorgeworfen worden war, ihr Kopftuch nicht korrekt getragen zu haben, begann eine Welle von Protesten im ganzen Land, die bis heute andauern. Das Mullah-Regime antwortete mit brutaler Gewalt.

"Wir haben im Jahr 2022 nochmal eine erhebliche Verschlechterung gesehen, was die Zahl der Hinrichtungen betrifft, Folter und willkürliche Verhaftungen", sagt Katja Müller-Fahlbusch der DW. Sie ist Expertin für die Region Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International in Deutschland. "Gleichzeitig haben wir einen einzigartigen Aufbruch gesehen. Mit welchem Mut Iranerinnen und Iraner für ihre Freiheit und für ihre Menschenrechte kämpfen, allen Widerständen und aller staatlichen Gewalt zum Trotz, auch noch nach sechs Monaten, ist beeindruckend."

"Die Frauen stehen immer noch an der Spitze dieser revolutionären Bewegung" - Katja Müller-FahlbuschBild: Sarah Eick/Amnesty International

Die iranischen Machthaber schreckten auch nicht davor zurück, Kinder und Jugendliche festzunehmen, zu foltern und zu vergewaltigen. Dies geschehe systematisch und planvoll, so Müller-Fahlbusch, mit dem Ziel, Angehörige und Familien einzuschüchtern, und sie so von Protesten auf den Straßen für Freiheit und Menschenrechte abzuhalten. Auch die Todesstrafe und öffentliche Hinrichtungen gehörten zu dieser Strategie.

"Zwischen den Verhaftungen, den Schauprozessen, der Aussprache der Todesurteile und den Hinrichtungen in bislang vier Fällen brauchte es in einem atemberaubenden Tempo nur wenige Wochen. Es gibt keine rechtsstaatlichen Standards und kein geregeltes Prozedere, sondern es ist einzig und allein Mittel zum Zweck, um Angst zu schüren", so die Amnesty-Expertin.

Screenshot: Amnesty International illustriert die Folter von Kindern im Iran, unter anderem mit ElektroschocksBild: amnesty.org

Wird Amnesty International auch im Jahresbericht 2023 zahlreiche Menschenrechtsverletzungen im Iran anprangern? Ja, befürchtet Müller-Fahlbusch, die staatlichen Behörden würden seit Jahrzehnten im Grunde genommen nur ein Mittel kennen: das der Gewalt und der systematischen Verletzung der Menschenrechte. Aber auch die Proteste einer Gesellschaft, die sich nicht länger auseinanderdividieren lasse, würden anhalten. Deswegen sei jetzt die internationale Gemeinschaft gefordert.

"Im Fall von Iran ist es so, dass Öffentlichkeit und öffentlicher Druck schützen. Stille Diplomatie, beispielsweise im Falle der inhaftierten Doppelstaatler und Doppelstaatlerinnen, hilft nicht. Was hilft, ist öffentlicher Druck, weil die geschaffene Öffentlichkeit die Verbrechen der politisch Verantwortlichen sichtbar macht. Und damit den Preis für die Islamische Republik Iran in diesem sehr, sehr zynischen Spiel erhöht."

Myanmar: Militär für Kriegsverbrechen verantwortlich

Sorgen bereitet der Menschenrechtsorganisation auch die Situation in Myanmar. Am 1. Februar 2021 hatte sich das Militär an die Macht geputscht, seitdem hat Amnesty International umfassende schwere Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, einschließlich Kriegsverbrechen und mögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Machthaber setzten dabei wahllos und gezielt Boden- und Luftangriffe gegen Zivilisten ein, plünderten Dörfer und brannten diese nieder.

Junge Rebellen in Myanmar

12:36

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Die Schreckensbilanz: Tausende Tote, 1,5 Millionen Vertriebene und 13.000 Menschen, die immer noch unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert seien. Dazu vier Menschen, die nach Kenntnis von AI hingerichtet und mindestens 100 Personen, die zum Tode verurteilt worden seien. Unfaire Gerichtsverfahren gehörten genauso zum Alltag wie der routinemäßige Einsatz von Folter während der Haft.

Äthiopien: Gezielte Angriffe auf Zivilisten und Massentötungen

Amnesty International begrüßt indes den Friedensschluss zwischen der äthiopischen und der tigrayischen Regierung. Besorgniserregend sei aber, dass die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen keinerlei Rolle im Friedensprozess spiele, die äthiopische Regierung diese sogar verhindern möchte.

Sexualisierte Gewalt trotz Friedensabkommen

02:57

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Recherchen von Amnesty International belegten, dass alle Konfliktparteien in Nordäthiopien Menschenrechtsverletzungen begangen hätten, mutmaßlich auch Kriegsverbrechen. Dazu gehörten laut der Menschenrechtsorganisation Massaker, Plünderungen und sexualisierte Gewalt. Hunderte Zivilpersonen seien in Tigray durch Luftangriffe der äthiopischen Sicherheitskräfte getötet worden, die äthiopische Regierung habe Nahrungsmittelhilfe nach Tigray blockiert und Hunger als Mittel der Kriegsführung eingesetzt.

Hier müsse nun auch die deutsche Regierung handeln. Amnesty International fordert Berlin auf, diese Vergehen klar zu verurteilen, die Zivilgesellschaft zu stärken und sich für die Freilassung von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern einzusetzen sowie die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen zu verlangen.