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Amos Oz: "Ich sage Ihnen, was ich möchte: Frieden!"

Sarah Judith Hofmann
28. Dezember 2018

Amos Oz war eine Ausnahmeerscheinung. Nicht nur als Literat, sondern auch als Mensch. Das fand auch DW-Autorin Sarah Hofmann, die den israelischen Schriftsteller im April 2018 zum Interview traf.

Israel - Schriftsteller Amos Oz verstorben
Bild: picture alliance/DPR/C. Bresciani

Als ich Anfang April dieses Jahres auf das Klingelschild eines unscheinbaren Mietshauses in Tel Aviv drückte, antwortete Amos Oz schnell. Er komme herunter. Und schon kurz darauf lief der wohl bedeutendste Literat Israels mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Arroganz war Amos Oz fern. Im nahe gelegenen Park nahm er auf einem einfachen Klappstuhl Platz und begegnete mir, einer jungen Journalistin aus Deutschland, mit solcher Aufmerksamkeit wie ich sie selten erlebt habe. Auf jede Frage antwortete er hochkonzentriert.

Dabei war zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt: Amos Oz hatte Krebs. Interviews sagte er kaum noch zu. Ich hatte Glück, dass er mich noch traf, um mit mir über die Staatsgründung Israels vor 70 Jahren zu sprechen. Über ein Land, dessen Aufbau er nicht nur miterlebt hatte, sondern dessen Ansehen in der Welt er durch seine Literatur mitgeprägt hatte.

Über die aktuelle Politik machte er sich große Sorgen und dennoch - so wurde mir während unseres Gesprächs klar - wollte er positiv in die Zukunft blicken. Wollte glauben, dass dieses Land irgendwann in Frieden mit seinen Nachbarn und Mitbürgern leben würde: mit den Palästinensern.

Denn so sehr Amos Oz auch sein Land und seine Landsleute kritisierte (und sich selbst dabei nicht schonte), so sehr war er auch ein großer Patriot. Das spürte ich in jeder seiner Antworten.

Amoz Oz bei der Olivenernte im WestjordanlandBild: picture-alliance/dpa/M. Kahana

So hart er mit der Vergangenheit ins Gericht ging und nicht zögerte, anzuprangern, welch ein zionistischer Fanatiker er selbst als Kind gewesen sei, so sehr leuchteten seine Augen als er sagte, Hebräisch sei die größte Errungenschaft Israels.

Eine Sprache, die man niemandem gestohlen habe, mit der man keinem anderen Leid zugefügt habe, das einzige zionistische Projekt, das bis heute unumstritten sei. "Kein Wunder, dass sie mein Leben geprägt hat wie kaum etwas sonst." Das sagte mir Amos Oz über die Sprache, in der er all seine Bücher verfasst hat.

Amos Oz ist am 28. Dezember gestorben, in Jerusalem. Ein Mann, der nicht nur als Literat eine Ausnahmeerscheinung war. Ganz gleich, wer ihm gegenüber trat, ob Palästinenser, Deutscher oder Israeli - er streckte seine Hand aus und blickte mit der Neugierde eines Kindes in die Welt, interessiert zu erfahren, was den anderen bewegte. (Sarah Hofmann) 

Hier können Sie das DW-Interview nachlesen, das unsere Autorin Sarah Hofmann dieses Jahr im April mit Amos Oz in Tel Aviv geführt hat:

Der Schriftsteller in seinem Haus in Tel AvivBild: picture alliance/AP Photo/D. Bality

Deutsche Welle: Israel feiert in diesen Tagen des Jahres 2018 sein 70-jähriges Bestehen. Stoßen Sie auf die Staatsgründung an?

Amos Oz: Ja, ich werde mein Glas auf Israel erheben, weil ich die Welt, in die ich geboren wurde, mit der vergleiche, in der wir heute leben. Nein, die heutige Welt erscheint mir nicht als Paradies oder Himmelreich. Aber ich wurde in die Welt Nazi-Deutschlands hineingeboren - mit Hitler, Stalin und Mussolini.

Ich wurde in einer winzig kleinen Enklave verängstigter jüdischer Flüchtlinge geboren. Wir waren weniger als eine Million, ohne klare Perspektive oder Zukunft. Hoffnungen gab es, aber eben keine klare Perspektive. Ja, ich glaube, diese sehr harte, grausame, blutige Welt, in der wir heute leben, ist weniger blutig, grausam und hoffnungslos als die Welt der frühen 1940er Jahre.

Sie wurden in Jerusalem geboren, noch bevor der Staat Israel ausgerufen wurde. Wie fühlte sich das Leben an, in dieser winzig kleinen Enklave, wie Sie sie gerade nannten?

Während meiner gesamten Kindheit schwebte eine schwere Wolke voller Schmerz und Enttäuschung und Unsicherheit über meinem Zuhause, über meiner kleinen Straße, meiner Nachbarschaft, über dem jüdischen Jerusalem, dem jüdischen Israel. Meine Eltern haben ihre enttäuschte Liebe zu Europa nie mit mir geteilt.

Das ist nichts, worüber man mit einem kleinen Jungen spricht: über Europa, das man geliebt hat und das einen gewalttätig und voller Schande hinausgeworfen hat. Aber ich konnte den Schmerz und die Sehnsucht spüren.

Ich konnte sogar ahnen, dass sie künstlich versuchten, inmitten dieses heißen und trockenen Klimas von Jerusalem, eine kleine Enklave Europa zu erschaffen. Es war eine seltsame Welt für einen kleinen Jungen, voller Geheimnisse, voller Familienzensur.

Die Welt der Bücher war ihm die liebsteBild: picture alliance/AP/D. Balitlty

Sie waren neun Jahre alt, als David Ben-Gurion die Unabhängigkeit des Staates Israel ausrief. Wie haben Sie den 14. Mai 1948 erlebt?

Der 14. Mai war ein Freitag. Jerusalem befand sich bereits seit zwei oder drei Monaten unter arabischer Belagerung. Die einzige Straße, die Jerusalem mit den anderen jüdischen Teilen des Landes verband, war praktisch in der Hand der Araber. Von Zeit zu Zeit gelang es einigen Fahrzeugkolonnen, in die Stadt durchzubrechen.

Aber wir erlebten Hunger und Wassermangel, denn die Wasserpumpen waren von irakischen Truppen in die Luft gesprengt worden. Jerusalem hatte kein Wasser - und Angst. Denn einige Monate zuvor - und dies werde ich niemals vergessen - hatten des Nachts junge begeisterte Araber aus Ostjerusalem mit Eimern voller Farbe und Pinseln in der Hand unsere Häuser markiert.

Sie hatten die Häuser bereits untereinander aufgeteilt. In der Erwartung, dass wir bald nicht mehr da sein oder leben würden. Das ging an diesem Tag in meinem Hinterkopf herum.

Wie haben Sie überhaupt davon erfahren, was sich an jenem Tag in Tel Aviv abspielte?

Die Unabhängigkeitserklärung selbst haben wir am 14. Mai nicht gehört, weil es keinen Strom gab. Niemand konnte Radio hören und es gab keine Zeitungen. Was es gab, waren Gerüchte. Etwas Großes passiere gerade in Tel Aviv. Aber was genau, wusste niemand. Es war sehr abstrakt.

Es war also kein Freudentag wie der 29. November, der Tag des UN-Teilungsplans, den Sie in ihrem autobiografischen Roman "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" beschreiben.

Nein. Sechs Monate zuvor war das noch eine Nacht voller Euphorie. Die UN-Generalversammlung hatte die Teilung Palästinas in zwei unabhängige Staaten beschlossen - einen für die Juden, einen für die Araber. Jener Tag war die Erfüllung eines historischen Traums, einer zionistischen Fantasie von einer unabhängigen Heimstätte.

Aber sechs Monate später zogen die Briten ab. Fünf arabische Armeen marschierten in jenen Staat ein, der gerade erst ins Leben gerufen worden war. Sie erklärten Israel den Krieg. Nein, das war gar nicht lustig.

Der Schatten des Krieges ist gebliebenBild: picture alliance/IPA

In "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" erzählen Sie, dass sie vor 1948 noch Freunde der Familie in arabischen Vierteln Jerusalems besuchen konnten. Wann war damit Schluss?

Schon einige Monate vor dem 14. Mai teilte eine Art eiserner Vorhang Jerusalem in ein jüdisches und ein arabisches Jerusalem. Einige arabische Bewohner der jüdischen Viertel zogen in den Osten und Süden der Stadt. Jüdische Bewohner des Ostens und Südens zogen aus Sicherheitsbedenken in den Norden und Westen.

Nach dem 48er Krieg - Israels Unabhängigkeitskrieg - war Jerusalem ebenso physisch geteilt wie Berlin mit einer eisernen Mauer, Minenfeldern, Stacheldraht und einem Niemandsland. Wenn ich auf dem Dach unseres Hauses stand, konnte ich Ost-Jerusalem sehen. Ich konnte den Skopusberg und die arabischen Viertel sehen. Aber ich konnte auch den Mond sehen - und die Chancen, dass ich jemals einen dieser Orte betreten würde, standen ebenso hoch wie die Chancen, jemals den Mond zu betreten. Es schien unrealistisch.

Wie blicken Sie heute auf Jerusalem? Die Stadt ist noch immer geteilt …

Ich habe gemischte Gefühle, was Jerusalem angeht. Die Stadt ist faszinierend, schön, tragisch und extrem attraktiv für jegliche Art von Fanatikern oder Erlösern, für Weltverbesserer, selbsternannte Propheten oder einen Messias. Das ist faszinierend. Aber ich glaube, ich könnte nicht inmitten all dieser Menschen leben. Ich brauche meine Distanz.

Ich weiß nicht, was in Jerusalem passieren wird, aber ich weiß, was passieren sollte. Jedes Land dieser Welt sollte dem Beispiel von Präsident Trump folgen und seine Botschaft nach Jerusalem verlegen. Gleichzeitig sollte es aber die Botschaft eines jeden Landes der Welt in Ost-Jerusalem als der Hauptstadt Palästinas geben.

Oz beobachtete die politische Entwicklung im Nahen Osten genauBild: ATTILA KISBENEDEK/AFP/Getty Images

Sie waren schon immer ein starker Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung...

Ich vertrete diese Idee seit 50 Jahren und finde sie immer noch richtig - das ist ungewöhnlich. Meistens widerspreche ich den Dingen, die ich am Morgen gesagt habe, bereits am selben Abend. Es ist einfach. Wir sprechen über ein sehr kleines Haus - ungefähr von der Größe Dänemarks. Es ist die einzige Heimstätte der Juden, es ist auch die einzige Heimstätte der palästinensischen Araber.

Wir können nicht eine gemeinsame glückliche Familie werden, denn wir sind nicht eins, wir sind nicht glücklich, wir sind nicht Familie. Wir sind zwei unglückliche Familien. Also müssen wir das Haus in zwei kleinere Wohnungen unterteilen.

Es gibt keinen Grund, auch nur darüber zu fantasieren, dass nach einhundert Jahren des Blutvergießens, Zorns und Konflikts Juden und Araber miteinander ins Ehebett springen und beginnen, sich zu lieben anstatt Krieg zu führen wie ein ungleiches Paar.

Ihr neues Buch widmen Sie den Fanatikern auf beiden Seiten. "Liebe Fanatiker. Drei Plädoyers" lautet der deutsche Titel. Wie schaffen Sie es, noch immer an eine Zwei-Staaten-Lösung zu glauben, wenn Sie doch all diese Fanatiker - religiöse und nationalistische - am Werk sehen?

Die Fanatiker auf beiden Seiten werden alles daran setzen, jeglichen Kompromiss zu verhindern - sie arbeiten hart daran. Aber hier sind unterschiedliche Uhren am Werk. Gleichzeitig realisieren nämlich gerade viele Teile der arabischen Welt, viele Teile des Islam, besonders der sunnitische Islam, dass Israel gar nicht ihr Problem ist und niemals war.

Es gibt einen viel größeren Feind: Iran. Israel ist sogar ein möglicher Verbündeter für Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien, Nordafrika, die Golfstaaten, vielleicht sogar für ein künftiges Syrien. Erteile ich Ihnen eine eindeutige Voraussage? Selbstverständlich nicht.

In Ihrem Buch "Liebe Fanatiker" versuchen Sie zu ergründen, was das jüdische Volk zu einer Nation - und nicht allein zu einer Religion - macht. Wie definieren Sie einen jüdischen Staat?

Bevor ich dies definiere, muss ich eine klare Unterscheidung einfordern: "Der Staat der Juden" und nicht der "jüdische Staat". Herzls Roman hieß "Der Judenstaat", nicht "Der jüdische Staat". Ein Staat kann nicht jüdisch sein - ebenso wenig, wie ein Auto jüdisch sein kann. Ein Staat ist ein Fahrzeug, ein Instrument. Es kann ein gutes, ein schlechtes, ein verfaultes, ein stinkendes Instrument sein.

Ein "Staat der Juden" ist eine andere Idee. Dies bedeutet, dass die Juden, ebenso wie jede andere Gruppe auf der Welt, das Recht haben, die Mehrheit und nicht eine Minderheit auf einem kleinen Fleckchen Erde zu sein. Dies ist der Staat des jüdischen Volkes - und zugleich der all seiner nicht-jüdischen Staatsbürger. Ich beschreibe hier, wie es sein sollte, nicht wie es tatsächlich ist.

Alle Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels: (v.li) Jorge Semprun, Maria Vargas Llosa, Gyoergy Konrad, Karl Dedecius und Amos Oz (1996)Bild: picture-alliance/dpa/F. Matzerath

Als kleiner Junge waren Sie selbst ein militanter Zionist, ein Fanatiker. 

Ich habe geglaubt, die Sache der zionistischen Juden sei einhundertprozentig richtig. Und jeder, der uns dies missgönnt oder dem widerspricht oder dieser Sache im Weg steht, sei ein Antisemit, ein Rassist, ein Monster. Es hat eine Weile gedauert, zu begreifen, dass die Erfüllung des Traums der Juden einen Preis hatte. Und in einem großen Maß mussten die palästinensischen Araber diesen Preis zahlen. Als Kind habe ich das nicht begriffen. Ich begreife es jetzt. 

Fürchten Sie derzeit einen neuen Antisemitismus - auch in der aktuellen Israel-Kritik? Wo ziehen Sie die Grenze? Bis zu welchem Maße ist es legitim, den Staat Israel zu kritisieren, und wo beginnt Antisemitismus? 

Ich fürchte ihn und ich erkenne ihn in mancher Israelkritik wieder. Ich werde versuchen, für Sie die Trennlinie zu ziehen. Wenn Sie argumentieren, Israel begehe furchtbare Verbrechen in den besetzten Gebieten - dann werde ich Ihnen zustimmen. Wenn Sie dann weitermachen und sagen, Israel begehe die schlimmsten Verbrechen auf Erden heute, dann werde ich sagen, dass Sie übertreiben und wir einander nicht einig sind.

Wenn Sie dann noch einen Schritt weitergehen und sagen, das, was Juden den Palästinensern antun, sei schlimmer als das, was die Nazis den Juden angetan haben, dann würde ich sagen, Sie gehören in die Psychatrie. Wenn Sie aber hinzufügen "Und deshalb sollte es kein Israel geben", dann ist der Moment erreicht, in dem Sie die Grenze überschreiten. Niemand hat nach Hitler gesagt, möge es doch kein Deutschland mehr geben. Oder nach Stalin, es solle kein Russland mehr geben.

Wo sehen Sie Israel in 70 Jahren? Was wünschen Sie dem Staat für die Zukunft?

Dies ist das Land der Propheten, hier gibt es zu viel Konkurrenz im Geschäft mit Prophezeiungen (lacht). Ich wage nicht einmal, Ihnen zu sagen, wo Israel in sieben Monaten stehen wird. Ich sage Ihnen, was ich möchte. Dies wird die kürzeste Antwort des gesamten Interviews sein: Frieden.

 

Amos Oz wurde am 4. Mai 1939 in Jerusalem geboren. 1954 trat er dem Kibbuz Hulda bei und änderte seinen Nachnamen von Klausner zu Oz, was auf Hebräisch Kraft, Stärke und Mut bedeutet. Seine Bücher wurden in etliche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, sein autobiographischer Roman "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" auch verfilmt. 

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