1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Terrorismus

Amri, die Sicherheitsbehörden und die Justiz

15. Januar 2017

Der Fall Anis Amri beschäftigt auch den parlamentarischen Kontrollausschuss. Den Geheimdiensten war der Dschihadist bekannt. Unklar war nur, ob deren Informationen für einen Haftbefehl gereicht hätten.

Deutschland LKW nach dem Anschlag am Breitscheidplatz in Berlin
Bild: Reuters/H. Hanschke

Justizminister Heiko Maas gab sich nachdenklich. Könnte es sein, dass die derzeitigen juristischen Grundlagen der terroristischen Gefahrenlage nicht nur hinterherhinken, sondern auf ihrem derzeitigen Stand sogar kontraproduktiv sind? Der Minister mochte das im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) nicht ausschließen. "Die Frage, mit der wir uns aber schon einmal vorab beschäftigen mussten, ist die, ob es gesetzliche Grundlagen gibt, die Behörden auch daran gehindert haben, etwas zu tun", erklärte er kürzlich in der TV-Sendung Maybrit Illner.

Und womöglich, deutete er an, seien nicht nur die gesetzlichen, sondern auch die gegenwärtigen sicherheitstechnischen Voraussetzungen nicht mehr auf der Höhe der Zeit. "Wir sind der Auffassung, wenn jemand vom Radar verschwindet, obwohl es viele Hinweise gibt, dann muss man auch überlegen, wie kann man die Überwachungsmöglichkeiten verbessern, wie kann man früher in die Überwachung gehen", sagte er mit Blick auf den tunesischen Dschihadisten Anis Amri, der kurz vor Weihnachten auf einem Berliner Weihnachtsmarkt zwölf Menschen getötet und etliche verletzt hatte.

"Die Beweislage war dünn"

Mit möglichen Versäumnissen der Geheimdienste wird sich das Parlamentarische Gremium zur Kontrolle der Geheimdienste an diesem Montag in einer Sondersitzung befassen. Hätte das Attentat verhindert werden können? Hätten die Erkenntnisse zu Anis Amri für einen Haftbefehl gereicht?

Prüft gesetzliche Grundlage der Terrorbekämpfung: Justizminister Heiko MaasBild: picture-alliance/dpa/J. Warnand

"Die Beweislage war dünn", hatte Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur erklärt. Die Mitarbeiter der Dienste seien aber hochprofessionell vorgegangen: "Ich kann bisher jedenfalls nicht erkennen, dass die Verantwortlichen in den Ländern Fehler gemacht haben."

Der Fall Amri wirft Fragen nach dem Zusammenspiel zwischen Geheimdiensten und Justiz auf. Denn die Sicherheitsdienste wussten eine ganze Menge über den Dschihadisten. "Dünn" waren offenbar weniger die Erkenntnisse selbst als deren juristische Belastbarkeit. Für einen Haftbefehl gegen den Tunesier reichten sie offenbar nicht.

Geheimdienste kannten Amri seit Langem

Zum ersten Mal waren die Behörden im November 2015 auf Amri aufmerksam geworden. Damals offenbarte er sich einem vermeintlichen Mitstreiter, der tatsächlich aber ein V-Mann des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen war. Er wolle "etwas in Deutschland unternehmen", zitiert die "Süddeutsche Zeitung" (SZ) aus ihr vorliegenden Dokumenten. Er könne sich für einen Anschlag eine Kalaschnikow besorgen.

Fortan wird Amri beobachtet. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hält fest, dass er unter verschiedenen Identitäten durch Deutschland reise. Außerdem werbe er "offensiv" darum, Anschläge zu begehen. Die Hinweise auf das von ihm ausgehende Gefahrenpotenzial verdichten sich derart, dass die Behörden ihn Mitte Februar 2016 als "Gefährder" einstufen. "Aktuell sind bei Amri Verhaltensmuster feststellbar, die auf eine Intensivierung von Anschlagsplanungen hindeuten könnten und die Tiefe seiner radikal-islamistischen Gesinnung untermauern", zitiert die SZ aus Dokumenten der Sicherheitsbehörden.

Wenige Tage später diskutieren Polizei und Nachrichtendienste auf einer gemeinsamen Sitzung die bisherigen Erkenntnisse zu Amri, geben dann aber Entwarnung: Dass Gefahr von dem Mann ausgehe, sei "eher unwahrscheinlich". Allerdings heißt es beim Bundeskriminalamt (BKA), dass Amri "für radikale Ansichten und Ansinnen empfänglich sein dürfte". Die gesammelten Erkenntnisse gehen an die Berliner Staatsanwaltschaft. Von März an wird Amri observiert. Verdacht erregt er in den kommenden Monaten nicht. Von September an wird er nicht mehr beobachtet.

Warnung des marokkanischen Geheimdienstes

Parallel dazu wird im Mai 2016 Amris Asylantrag abgelehnt. Doch warten die Behörden vergeblich auf die Ausweispapiere aus Tunesien. Im Juli 2016 diskutiert die "Arbeitsgruppe Statusrechtliche Begleitmaßnahmen" im gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) noch einmal den Fall Amri. Anwesend sind auch Vertreter des Innenministeriums, des Bundeskriminalamts und des Verfassungsschutzes. Die gesammelten Erkenntnisse deuten sie so: "Eine akute Gefährdungslage liegt derzeit nicht vor."

Im September warnt der marokkanische Geheimdienst den BND vor Amri. Wenige Wochen später, im Oktober, erneuert er seine Warnung noch einmal. Im November kommt die Arbeitsgruppe "Operativer Informationsaustausch" im GTAZ zu dem Schluss, es sei "kein konkreter Gefährdungssachverhalt erkennbar".

Im Visier: Anis Amri auf einem FahndungsplakatBild: picture-alliance/dpa/Bundeskriminalamt

Am 19. Dezember rast Amri mit einem LKW auf einen Berliner Weihnachtsmarkt.

Die Schwierigkeiten, auf die im ZDF womöglich auch Justizminister Maas anspielte, zeigen sich in einem Protokoll der Sitzung der GTAZ im Juli 2016. Zwar lagen zu Amri bereits zahlreiche Informationen vor. Die Vertreter der versammelten Behörden zogen aus ihnen aber den Schluss, dass eine "akute Gefährdungslage derzeit nicht in gerichtsverwertbarer Form" vorliege.

Diese Einschätzung bestätigte Maas im ZDF offenbar noch einmal. "Wir haben überhaupt keinen eigenen Haftgrund für Gefährder gehabt", erklärte er, und fügte hinzu: "Den werden wir jetzt schaffen."

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen