1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

"Dauerhafte moralische Unfähigkeit"

Gabriel González Zorrilla
11. November 2020

Im zweiten Anlauf hat sich im peruanischen Parlament eine Mehrheit für die Absetzung von Präsident Martín Vizcarra gefunden. Mit der Corona-Krise hatte dies wohl recht wenig zu tun.

Peru I Martín Vizcarra in Lima
Präsident Vizcarra am Tag der Amtsenthebung: Ständiger Kleinkrieg mit dem KongressBild: Sebastian Castaneda/REUTERS

Wenn ein Land innerhalb einer Mandatszeit von fünf Jahren gleich drei Präsidenten verschleißt, kann man mit Recht von einer tiefen politischen Krise sprechen. In der steckt gerade Peru. Denn diese Woche - mitten in der Corona-Krise - hat das Parlament in Lima Präsident Martín Vizcarra nach nur zweieinhalb Jahren an der Spitze des Staates seines Amtes enthoben.

105 Kongressabgeordnete stimmten am Montag für die Absetzung des Staatschefs "wegen dauerhafter moralischer Unfähigkeit". Nur 19 Abgeordnete waren dagegen, vier enthielten sich. Um Vizcarra abzusetzen, waren 87 Stimmen nötig.

Als Nachfolger wurde am Dienstag Parlamentspräsident Manuel Merino vereidigt - nicht weil eine Mehrheit des Parlaments sich auf ihn einigen konnte, sondern weil die peruanische Verfassung eine feste Nachfolgeregelung vorsieht. Demnach wäre das höchste Staatsamt eigentlich an den amtierenden Vizepräsidenten gegangen.

Kongress in Lima: Machtkampf zwischen Präsident und ParlamentBild: Martin Mejia/AP/picture alliance

So war im März 2018 auch Martín Vizcarra an die Macht gekommen. Doch der Vizepräsidentenposten war jetzt vakant. In so einem Fall übernimmt - an dritter Stelle der Nachfolgeregelung - der Parlamentspräsident. Und dieses Amt hatte bislang Manuel Merino. Er muss laut Verfassung umgehend Neuwahlen ansetzen. Sie stehen nun für den 11. April 2021 an. Weder Vizcaya noch Merino können zu diesen Präsidentschaftswahlen erneut antreten.

Korruptionsvorwürfe

Merino ist bereits der dritte Präsident in der aktuellen Legislaturperiode. Der nun geschasste Martín Vizcarra hatte das höchste Staatsamt 2018 übernommen, nachdem der gewählte Präsident Pedro Pablo Kuczynski wegen Korruptionsvorwürfen zurückgetreten war. Angetreten als Kämpfer gegen die Korruption im Land stolpert Vizcarra aber nun selbst über Korruptionsvorwürfe. Im September hatte er ein erstes Amtsenthebungsverfahren noch überstanden

Ihm wird vorgeworfen, während seiner Amtszeit als Gouverneur der Region Moquegua von 2011 bis 2014 Bestechungsgelder von einer Baufirma in Höhe von 2,3 Millionen Soles (umgerechnet 546.000 Euro) angenommen zu haben. Vizcarra hat die Anschuldigungen als "ohne Grundlage" und "falsch" zurückgewiesen.

Raúl Tecco, Projektleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Lima, ist nicht von der Stichhaltigkeit der Vorwürfe überzeugt: "Ich lege für Martín Vizcarra nicht meine Hand ins Feuer, was die Bestechungsvorwürfe angeht", so Tecco im Gespräch mit DW, aber es gebe zum aktuellen Zeitpunkt nur eine gerichtliche Voruntersuchung ohne Anklage.

Interims-Präsident Merino: An dritter Stelle der NachfolgeregelungBild: REUTERS

Diese basiere auf der Aussage von zwei Personen, die eine Kronzeugenregelung anstreben. Die Amtsenthebung sei also ein rein politisches Instrument im Machtkampf zwischen dem Präsidenten und dem Parlament gewesen.

"Einem Außenstehenden ist das wirklich schwer zu erklären. Wir leiden ja nicht nur unter den Auswirkungen der Pandemie, sondern haben zudem eine Wirtschaftskrise und eine Krise der politischen Moral, obwohl eigentlich die politische Krise schon fast eine Konstante in Peru ist", klagt Raúl Tecco.

Das politische Geschehen werde in Peru von Partikularinteressen bestimmt: "Politisch Gruppierungen tauchen zu den Wahlen auf und verschwinden recht bald wieder in der Versenkung." Außerdem seien die Kandidaturen für das Parlament in den Parteien käuflich und werden nicht selten auch versteigert.

Ein gigantischer Korruptionsskandal um den brasilianischen Baukonzern Odebrecht hat in den vergangenen drei Jahren fast ganz Lateinamerika erfasst, darunter auch Peru. Dies ließ das Vertrauen der Peruaner in ihre politischen Eliten noch weiter sinken.

Popularität auf Kosten des Parlaments

Martín Vizcarra schwamm bis zuletzt auf einer Welle der Popularität in der peruanischen Bevölkerung. In einer im September von der Beratungsfirma Ipsos durchgeführten Umfrage sprachen sich 79 Prozent der Peruaner dafür aus, dass Vizcarra nach dem Ende seiner Regierung zu den Vorwürfen Rede und Antwort steht, und 72 Prozent lehnten ein Amtsenthebungsverfahren ab. Der persönliche Zustimmungswert für Vizcarra lag in der Umfrage bei beachtlichen 57 Prozent.

Geschasstes Staatsoberhaupt Vizcarra: "Müssen sie auch ihre Ämter aufgeben?"Bild: Luka Gonzales/AFP/Getty Images

Diese Popularität bezog er laut politischen Beobachtern vor allem aus seinem ständigen Kleinkrieg mit dem Parlament, das er gegenüber der Bevölkerung als Brutstätte der Korruption darstellte. Selbst in seiner letzten Rede als Präsident kurz vor der Amtsenthebung konnte er sich einen Seitenhieb nicht verkneifen: Vizcarra erinnerte daran, dass es gegen 68 der anwesenden Abgeordneten laufende Ermittlungen gäbe. "Müssen sie auch ihre Ämter aufgeben?", fragte er spöttisch.

In der Sache hatte er damit sicherlich Recht, aber dieser Hang zur populistischen Arroganz und seine Unfähigkeit, sich eine stabile Unterstützerbasis im Parlament aufzubauen, werden ihm sicher einige Stimmen und somit auch das Amt gekostet haben.

COVID-19 und die Wirtschaft

Peru gönnt sich eine tiefe politische Krise inmitten der globalen Pandemie, in der Peru alles andere als gut dasteht. Mit derzeit knapp einer Million bestätigten Fällen gehört Peru zu den weltweit am stärksten vom Coronavirus betroffenen Ländern. Mit mehr als 34.000 Corona-Toten bei 32 Millionen Einwohnern sterben gemessen an der Bevölkerungszahl nirgendwo in der Welt so viele Menschen an dem Virus wie in Peru.

Dazu kommen die gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie, die von einer nicht gewählten Interimsregierung kaum zu bewältigen sind. Die peruanische Wirtschaft brach im April zum Höhepunkt der ersten Corona-Welle um 45,5 Prozent ein. Nach einem strengen Lockdown wird die Wirtschaftsaktivität in Peru allmählich wieder angekurbelt. Dennoch dürfte die Rezession 2020 zweistellig ausfallen, so die Experten der Deutschen Gesellschaft für Außenwirtschaft (GTAI).

Übergangspräsident Manuel Merino hat jetzt bis April 2021 die Chance, seine moralischen und politischen Fähigkeiten unter Beweis stellen.