1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Andacht auf der Autobahn

Marcus Bösch25. Juli 2002

Statt auf dem Rastplatz Schokoriegel zu futtern, zieht es immer mehr deutsche Reisende in die besinnliche Autobahnkirche nebenan. Die christliche Versorgung am Rande der Straße ist europaweit einmalig.

Ökumenische Autobahnkapelle Dammer Berge auf der A1Bild: CHOROS

Wer mit dem Auto auf der A3 in Höhe Wiesbaden an der Tank- und Rastanlage Medenbach abfährt, sieht als erstes ein spitzes Glasdach und eine Rohbetonmauer: die erste und einzige Autobahnkirche Hessens. Dort kann man – nach dem Kauf eines überteuerten Frikadellenbrötchens in der Raststätte nebenan – den karg gestalteten Andachtsraum aufsuchen und einen Blick in das ausliegende "Anliegenbuch" werfen. In ungelenker Handschrift bittet beispielsweise der Fernfahrer Heinz: "Lieber Gott, mach das die Gaby wieder zu mir zurückkommt."

Hilfe und Heimfahrt

21 Autobahnkirchen und -kapellen laden in Deutschland zum kurzen Verweilen und Nachsinnen ein. Fernfahrer, Urlauber und Pendler bitten hier um Hilfe oder eine gute Heimfahrt. "300.000 bis 500.000 Besucher jährlich suchen auf der Reise die Nähe zu Gott", kalkuliert Diplom-Theologe Gereon Vogler im Gespräch mit DW-WORLD. Vogler betreut die Internetseite www.autobahnkirchen.de, die eine virtuelle Übersicht der Gotteshäuser liefert: Von der Ökumenischen Autobahnkapelle beim Rasthaus Dammer Berge auf der A1 bis zur Katholischen Autobahnkirche "Maria am Wege" bei Windach auf der A 96.

Zwischen 1985 und 2002 eröffneten 17 Kirchen ihre Pforten. Damit zeichnet sich ein klarer Trend zur Autobahnkirche ab. Die Angebote reichen dabei von der kleinen Kapelle, die sich unscheinbar hinter der Tankstelle versteckt bis zur historischen Gemeindekirche, die wenige Kilometer abseits der Autobahn zum Gottesdienst einlädt. "Seit der Wiedervereinigung verbinden immer mehr Gemeinden im Osten Deutschlands, das Angenehme mit dem Nützlichen", erklärt Vogler. Völlig marode Dorfkirchen wurden kurzerhand in Autobahnkirchen umfunktioniert und saniert.

Typisch Deutsch?

Das Phänomen der Autobahnkirche scheint speziell deutscher Natur zu sein. Vogler weiß lediglich von "vereinzelten Autobahnkirchen in Frankreich und Italien". Trotz der vermeintlichen Spitzenreiterposition bei der christlichen Versorgung der Autofahrer gibt es in Deutschland weder bei der katholischen noch bei der evangelischen Kirche eine übergeordnete Stelle, die diese Kirchen und Kapellen anordnet oder einrichtet. Selbst die Ausschilderung auf den Autobahnen hängt vom Willen oder Glauben der jeweiligen Autobahndirektion ab.

Angefangen hat alles mit einem Verkehrsunfall und einer privaten Initiative. 1958 verunglückte eine Augsburger Papierfabrikantenfamilie auf der A8 zwischen München und Stuttgart und stiftete daraufhin ein Stück Land und den Rohbau der ersten Autobahnkirche "Maria, Schutz der Reisenden". Ein knappes Jahr später eröffnete in Exter an der A2 die erste evangelische Autobahnkirche. Lokale Gemeinden oder regionale Fördervereine kümmern sich seitdem um die Errichtung der Kirchen. Mittlerweile füllt das Thema sogar Diplomarbeiten.

Katholisch, weiblich, alt

Auf 219 Seiten hat sich Gereon Vogler empirisch mit den Besuchern von Autobahnkirchen und -kapellen auseinandergesetzt. Der klassische Autobahnkirchennutzer ist demnach katholisch, weiblich und in der zweiten Lebenshälfte. Doch auch zahlreiche Pendler suchen, zum Teil täglich, die kurze religiöse Besinnung. "Statt institutionalisierter Gottesdienste suchen viele die stille Andacht", sagt Vogler. Menschen, die schon lange sonntags lieber ausschlafen, als zur Messe zu gehen, fühlen sich auf der Autobahn plötzlich allein und hilflos.

Vermutlich ging es Fernfahrer Heinz ähnlich, als er am Rastplatz Medenbach abfuhr und die Kirche aufsuchte. Vielleicht ist Gaby ja inzwischen wieder zurückgekommen. Vielleicht aber auch nicht.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen