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Politik

Unglücklich gekämpft - und verloren

2. Juni 2019

Andrea Nahles war die erste Frau an der Spitze der SPD. Sie hatte große Pläne, doch alles ging schief. Jetzt wirft sie hin. So kurz wie sie saß kaum einer auf dem Chefsessel der SPD. Von Sabine Kinkartz, Berlin.

Andrea Nahles
Bild: Reuters/F. Bensch

Mit Negativrekorden kennt sich die SPD inzwischen aus. 15,5 Prozent erreichten die Sozialdemokraten bei der Europawahl am 26. Mai. Die gleichzeitig stattfindende Landtagswahl im Stadtstaat Bremen verlor die SPD erstmals seit 73 Jahren. Bei der Landtagswahl in Bayern im vergangenen Herbst war das Ergebnis nur noch einstellig, in Hessen sah es ebenfalls desaströs aus.

Nun erlebt die SPD einen neuen Negativrekord. Nach nur 20 Monaten an der Spitze der Bundestagsfraktion und 13 Monaten als Parteivorsitzende will Andrea Nahles von beiden Ämtern zurücktreten. Nur Martin Schulz unterbot die Zeit als Parteichef mit nur 11 Monaten im Amt. Ihr Bundestagsmandat legt Nahles auch nieder.

Großer Knall am Sonntagmorgen

Die Wucht der Entscheidung passt zu Andrea Nahles. Zaudern und zögern war noch nie ihr Ding. "Wenn ich herausgefordert werde, gehe ich mit offenem Visier vor", sagte sie nach der Europawahl in einem Fernsehinterview. Vor allem aus der Bundestagsfraktion schlug ihr da bereits massiver Gegenwind entgegen. Zwar versuchte sie noch, ihren Posten zu retten. Doch viele Parlamentarier fürchten um ihre Sitze im Bundestag, sollte es mit der SPD noch weiter bergab gehen.

SPD-Klausur im Februar: Zuspruch für Nahles auch in der Parteispitze nicht mehr großBild: picture-alliance/dpa/G. Fischer

Am Sonntagmorgen wurde Nahles Entscheidung publik: "Die Diskussion in der Fraktion und die vielen Rückmeldungen aus der Partei haben mir gezeigt, dass der zur Ausübung meiner Ämter notwendige Rückhalt nicht mehr da ist", schreibt Nahles in einem Brief an ihre Genossen. Am Montag werde sie daher im Parteivorstand ihren Rücktritt als Vorsitzende der SPD und am kommenden Dienstag in der Fraktion ihren Rücktritt als Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion erklären.

Gescheiterte Trümmerfrau

Nun steht Andrea Nahles vor einem politischen Trümmerhaufen. Dabei war sie nach der Bundestagswahl 2017, bei der die SPD mit 20,5 Prozent der Stimmen ihr bislang schlechtestes Ergebnis in der Nachkriegsgeschichte eingefahren hatte, mit großen Hoffnungen gestartet. Sie wollte die am Boden liegende Partei wieder aufrichten. Als "Trümmerfrau" wurde sie damals bezeichnet, in Erinnerung an die Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg die zerbombten Städte aufräumten.

Nahles war die erste Frau in der Geschichte der Sozialdemokraten, die es bis an die Spitze der SPD geschafft hat. Am 27. September 2017 wurde sie zur Fraktionsvorsitzenden im Bundestag gewählt, ein halbes Jahr später, am 22. April 2018, zur Parteivorsitzenden. In diesem halben Jahr schaffte sie es, die SPD zu einer erneuten Koalition mit CDU und CSU zu überreden. Das war das Gegenteil dessen, was nach der Bundestagswahl geplant war.

Von der Opposition in die erneute GroKo

"Die SPD ist in die Opposition geschickt worden. Punkt!", so Nahles im September 2017. Als Oppositionsführerin im Bundestag wollte sie gegen die Unionsparteien Politik machen. "Ab morgen kriegen sie in die Fresse!", rief sie damals in Richtung CDU und CSU und lachte laut. Zwar entschuldigte sich Nahles später für ihre Wortwahl, aber eigentlich passte der Auftritt zu ihr: Impulsiv, vorlaut und burschikos. Und ja, manchmal auch ein bisschen peinlich.

CDU-Politiker Bouffier mit Nahles-Schlagzeile der Bildzeitung: "Ab morgen kriegen sie in die Fresse"Bild: picture-alliance/dpa/A. Dedert

Schrille Momente gab es schon viele im politischen Auftreten von Andrea Nahles. 2013 fing sie im Bundestag während einer Rede an zu singen. Mit dem Pippi-Langstrumpf-Lied "Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt" wollte sie Kritik an der damals von CDU, CSU und der FDP geführten Bundesregierung üben.

Als Bundesarbeitsministerin ab 2013 konnte Nahles im Kabinett Merkel durchaus Erfolge vorweisen: Mit viel Pragmatismus und zähem Ringen um Kompromisse setzte sie unter anderem die Einführung des Mindestlohns durch. Doch 2014 brach zum Thema "Rente mit 63" der Satz "Für die Leute machen wir das, verdammte Kacke nochmal", aus ihr heraus. Darf eine hochrangige Politikerin, eine Ministerin so auftreten, so reden?

Nahles kommt nicht an

Nein, meint so mancher ihrer Kollegen. Man habe sich über die Parteivorsitzende oft geärgert, sagte kürzlich der bayerische SPD-Bundestagsabgeordnete Florian Post. "Aber wir haben uns nie für sie geschämt."

Auch bei vielen Bürgern kommt Nahles nicht gut an. "Die Nahles war mir noch nie sympathisch", sagte auf einer SPD-Kundgebung in Bremen ein Zuschauer, nachdem die SPD-Vorsitzende eine Rede vor ein paar hundert Bremer Bürgern mit dem Satz begonnen hatte: "Ich kann jetzt nicht sagen, dass ich Bremen liebe". Dabei lachte sie unbeholfen und ruderte mit den Armen. Das nachgeschobene "Weil ich ja die Eifel liebe, wo ich wohne", konnte die Irritation auch nicht mehr auffangen, zumal sie dann noch sagte: "Aber ich liebe den Carsten." Damit war der Bürgermeister von Bremen gemeint.

Wo Andrea Nahles geboren und aufgewachsen ist, in der Vulkaneifel, südlich von Bonn und westlich von Koblenz, da sind die Menschen rau und herzlich und sie nehmen in der Regel tatsächlich kein Blatt vor den Mund. Bundeskanzlerin oder Hausfrau wolle sie werden, sagte 1989 die Abiturientin Nahles. Will heißen: Entweder politische Karriere machen, oder im Dorf Weiler bleiben, wo Nahles seit ihrer Geburt im Jahr 1970 auf dem Bauernhof ihrer Urgroßeltern lebt.

Schon früh geht sie ihren eigenen Weg

So oft es geht, ist die 48-Jährige hier. Schon allein wegen ihrer Tochter Ella aus der 2016 geschiedenen Ehe mit dem Kunsthistoriker Marcus Frings. In Weiler ist Nahles in erster Linie "die Andrea" und nicht die Berliner Berufspolitikerin. "Wenn ich samstags die Straße kehre, kommen da immer ein paar Leute vorbei, da wird viel gequatscht und ich weiß, was die Leute wirklich beschäftigt", so Nahles.

"Katholisch, Arbeiterkind, Mädchen, Land" - es sei nicht unbedingt logisch gewesen, dass sie in der SPD Karriere machen würde, so beschreibt Nahles ihren Werdegang. Ihr Vater war Maurer, "hatte Schulter, Knie, Rücken kaputt". Das prägte die Tochter, die schon früh politisch links dachte. In ihrem kleinen, christlich-konservativen Heimatdorf gründete sie mit 18 Jahren einen SPD-Ortsverein. Kritisch und voller Argwohn beäugt von den Dorfbewohnern. Selbst ihre Mutter fand warnende Worte, denn sie fürchtete, die Tochter könne Unruhe ins Dorf bringen.

"Gottesgeschenk" für die SPD

Nahles beeindruckte das alles nicht. Sie ging ihren politischen Weg. Für ihr Studium der Germanistik und Politik in Bonn blieb nicht viel Zeit. 20 Semester brauchte sie für ihren Magister-Abschluss, die Doktorarbeit bleibt unvollendet. Stattdessen wurde Nahles mit 23 Jahren Vorsitzende der Jungsozialisten in Rheinland-Pfalz.

SPD-Chef Lafontaine mit Juso-Vorsitzender Nahles (1995): Politisches Talent früh entdecktBild: picture alliance /

Zwei Jahre später war sie bereits Bundesvorsitzende der Jusos. Mit ihrer frechen und vorlauten Art verhalf sie der Jugendorganisation innerhalb der SPD wieder zu Bedeutung. Sie sei "ein Gottesgeschenk an die SPD" urteilte 1995 der SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine, der Nahles politisches Talent früh entdeckte.

Auf der Karriereleiter nach oben

Wenn es hart auf hart kommt, scheut Nahles in der Folge keine Konflikte und sie lernt schnell, wie man hinter den Kulissen politische Strippen zieht. 1995 ist sie maßgeblich am Sturz des damaligen SPD-Vorsitzenden Rudolf Scharping beteiligt. 2005 düpiert sie SPD-Chef Franz Müntefering so sehr, dass der sein Amt aufgibt.

In den Bundestag zog Andrea Nahles 1998, im Alter von 28 Jahren, erstmals ein. Es ist das Jahr, in dem Gerhard Schröder Bundeskanzler wird. Seine Politik ist ihr nichts links genug. Vor allem an der Arbeitsmarktreform "Agenda 2010" lässt sie kein gutes Haar. "Für die Agenda kriegen wir vielleicht irgendwann einmal den Ehrenpreis für aufrichtige Reformen, doch eine Wahl gewinnen wir so nicht", urteilt Nahles und trifft damit schon früh eine Grundstimmung in der SPD.

Geliebt werden in der SPD nur wenige

Zur Parteibasis hatte sie lange einen engen Draht. Dort galt sie stets als geradlinig und authentisch. Das Herz der SPD konnte sie trotzdem nie gewinnen. Ob bei der Wahl zur SPD-Generalsekretärin oder zur Parteivorsitzenden - die Abstimmungsergebnisse waren stets mager. Nur zwei Drittel der Delegierten wählten sie zur Parteivorsitzenden, das war das zweitschlechteste Ergebnis in der Parteigeschichte.

Fraktionsvorsitzende Nahles auf SPD-Sonderparteitag in Bonn (2018): Immer eine KämpferinBild: Reuters/W. Rattay

Das mag auch daran gelegen haben, dass Nahles mit der Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange eine starke Gegenkandidatin hatte. Zumal eine, die lieber heute als morgen aus der großen Koalition mit CDU und CSU aussteigen würde. So denken viele in der SPD, Andrea Nahles aber eben nicht.

Trommeln für die GroKo

Nahles wollte gleichzeitig reformieren und gut regieren und die SPD so aus ihrer tiefen Identitätskrise zurück zum Erfolg zu führen. Doch das Gegenteil war der Fall. Die Umfragewerte sanken weiter, zeitweise sackte die SPD in Wahlumfragen auf 14 Prozent ab. Wohl auch, weil es die SPD entgegen Nahles' Vorstellung nicht schaffte, innerhalb der Koalition ein eigenes Profil zu entwickeln.

Koalitionspartnerinnen Nahles und Merkel (2018): Neben Kanzlerin und Union blieben Nahles und die SPD blassBild: picture-alliance/dpa/Bildfunkk/B. v. Jutrczenka

Zu brav, zu mutlos sind sie heute - die SPD und Nahles. Dass sich die Partei unter ihrer Führung vom Hartz-IV-System distanziert und eine Sozialstaats-Offensive gestartet hat, hat ihr nicht geholfen. "Ich glaube, dass wir etwas zu bieten haben, aber ehrlich gesagt, das hat offensichtlich noch niemand gemerkt", sagte Nahles nach der verlorenen Europawahl und der Landtagswahl in Bremen und wirkte dabei fast hilflos.

Jetzt hat sie die Konsequenzen gezogen und will abtreten. "Bleibt beieinander und handelt besonnen!", gab sie ihrer SPD zum Abschied mit auf den Weg.

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