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PolitikEuropa

Sacharow: Bombenbauer, Dissident, Ikone

Roman Goncharenko
21. Mai 2021

An seinem 100. Geburtstag wird vor allem im Westen an den Friedensnobelpreisträger und Bürgerrechtler Andrej Sacharow erinnert. In Russland ist sein Ruhm verblasst - und seine Erfahrungen sind wieder aktuell.

Sowjetunion Bürgerrechtler Andrej Sacharow in Moskau
Andrej Sacharow im Jahr 1975 in MoskauBild: ullstein bild - sipa

Mit einer Fotoausstellung auf einem Boulevard im Herzen Moskaus wollte das Sacharow-Zentrum an den prominentesten sowjetischen Dissidenten erinnern. Der Atomphysiker und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow wäre am 21. Mai 100 Jahre alt geworden. Doch die Ausstellung wurde nicht genehmigt, angeblich aus technischen Gründen. Der Vorstand des Sacharow-Zentrums kritisierte in einer Stellungnahme die Entscheidung der Stadtverwaltung als "beschämend". Dem Land, in dem das Erbe "eines seiner besten Söhne" ignoriert werden soll, drohe eine "traurige Zukunft." 

Wie ein Bombenbauer zum Bürgerrechtler wurde

Der Weg zum Dissidenten sei für Sacharow nicht vorbestimmt gewesen, sagte der Berliner Osteuropa-Historiker Karl Schlögel in einem DW-Gespräch: "Ich glaube, dass das wider Willen geschehen ist." Der Wissenschaftler sei in die Rolle des Bürgerrechtlers hineingewachsen - vor allem wegen seines "Anstands und der Treue zu seinen Prinzipien."

Der 1921 in Moskau geborene Andrej Sacharow erbte seine Leidenschaft für Physik von seinem Vater, der ebenfalls Physiker war. Sein Talent setzte sich früh durch, er stieg schnell in wissenschaftliche Elitezirkel auf und beschäftigte sich in einem streng geheimen Projekt mit Atomwaffen. Die Krönung seiner Karriere war die Entwicklung der sowjetischen Wasserstoffbombe. Eine prägende Erfahrung war dabei die 1961 in der Arktis getestete "Zar-Bombe", die weltweit schlagkräftigste jemals produzierte Atomwaffe. Sie hatte eine Zerstörungskraft von etwa 4000 Hiroshima-Bomben. Die verheerenden Folgen von Atomtests machten Sacharow zu einem Gegner des atomaren Wettrüstens zwischen der Sowjetunion und den USA. Diese Ansichten führten dazu, dass er immer mehr zum Kritiker der sowjetischen Führung wurde. Aber nicht nur das.

Sacharow und seine Ehefrau Elena Bonner, 1987Bild: Daniel Janin/AFP

Auch Strafprozesse gegen Andersdenkende in der UdSSR sowie Versuche, die Destalinisierung rückgängig zu machen, brachten Sacharow gegen die alleinherrschende Kommunistische Partei auf. Sein programmatisches Manifest "Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit" aus dem Jahr 1968 gelten als ein Wendepunkt in Sacharows Leben als Dissident. Mit seiner zweiten Ehefrau Elena Bonner engagierte er sich zunehmend für Menschenrechte, vor allem für politische Häftlinge. Er schrieb Appelle an sowjetische und westliche Staatschefs, gab Interviews für die ausländische Presse. Sacharow habe sein Prestige als Wissenschaftler für andere eingesetzt, die bedroht waren, so Karl Schlögel. Zum Beispiel für Mustafa Dschemiljow, der sich für die Krimtataren engagiert hatte und verurteilt wurde, oder für die Rechte der Wolga-Deutschen.

Friedensnobelpreis und Verbannung 

1975 bekam Sacharow für sein Engagement den Friedensnobelpreis, den er nicht persönlich entgegennehmen konnte, weil er nicht ausreisen durfte. In dieser Zeit wurde er zu Hause in sowjetischen Medien scharf kritisiert und von Kollegen diffamiert, bis die Sowjetführung ihn 1980 in die Verbannung rund 400 Kilometer östlich von Moskau nach Gorki schickte, das heutige Nischni Nowgorod. Anlass war Sacharows Kritik am sowjetischen Einmarsch in Afghanistan.

Der Dissident wurde stets vom Geheimdienst KGB beschattet, trat in Hungerstreiks und wurde zwangsernährt. Erst im Dezember 1986 rief ihn der neue sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow persönlich an und beendete seine Verbannung. Sacharow wurde zur prominenten Figur der Reformbewegung, ließ sich bei der ersten freien Wahl als Abgeordneter in das sowjetische Parlament wählen und arbeitete an einer neuen Verfassung. Er starb am 14. Dezember 1989 an Herzversagen.

Die Belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja bei der Sacharow-Preis-Verleihung, Dezember 2020Bild: John Thys/Reuters

Noch zu seinen Lebzeiten, 1988, benannte das EU-Parlament nach Sacharow seinen Preis für geistige Freiheit, auch EU-Menschenrechtspreis genannt. Der erste Preisträger war Nelson Mandela. 2020 bekam die Opposition in Belarus die renommierte Auszeichnung.

Sacharows Erfahrungen sind zurück

Während er im Westen gefeiert wird, tut sich das heutige Russland schwer mit dem Erbe Sacharows. Sein Ruhm in der Bevölkerung scheint verblasst, in Geschichtsbüchern hat er keine prominente Rolle, sagte die Moskauer Historikerin Irina Scherbakowa am Mittwoch bei der Online-Gedenkveranstaltung des Zentrums Liberale Moderne (LibMod) in Berlin. Während in Moskau Denkmäler für den Waffenbauer Kalaschnikow oder den Großfürsten Wladimir eröffnet werden, bleibt der bekannteste sowjetische Dissident mehr als 30 Jahre nach seinem Tod ohne Monument. Sacharows Name tauchte zuletzt in den Nachrichten im Zusammenhang mit oppositionellen Protesten auf, die in Moskau auf dem nach ihm benannten Boulevard stattfanden. Solche Proteste sind nach den jüngsten Gesetzesverschärfungen kaum möglich. Ein prominenter Teilnehmer, der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, sitzt in Haft. Während eines Hungerstreiks wurde auch ihm mit Zwangsernährung gedroht.  

Alexei Nawalny auf dem Sacharow-Boulevard, 2017Bild: Imago/Russian Look

Auch Sacharows Leben und Ideen dürften dem Kreml ein Dorn im Auge sein. Er gilt als Symbol im Kampf für Menschenrechte und wurde verfolgt vom KGB, dessen früherer Offizier heute Präsident ist: Wladimir Putin. Russland sei wieder teilweise da angekommen, wo die Sowjetunion zu Sacharows Zeiten war, sagte bei der LibMod-Veranstaltung Andrej Kolesnikow vom Moskauer Carnegie-Zentrum. Er erwähnte dabei unter anderem den "Druck auf die Gesellschaft seitens des Staats" und neue Gesetze, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit einschränken.     

Historiker Karl Schlögel

"Ja, es sieht tatsächlich so aus, dass man im Grunde von vorne anfangen muss", sagt der Historiker Karl Schlögel über Sacharows Erbe. Überwachung und Bedrohung wie zu Sacharows Zeiten seien wieder da. Allerdings habe sich Russland auch verändert. Oppositionelle Massenkundgebungen seien zu Sacharows Zeiten unmöglich gewesen. Der Nobelpreisträger bleibe als jemand, der sich nicht einschüchtern ließ, ein Vorbild "in Zeiten, in denen es an Vorbildern mangelt".