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Bildung

Im Fokus: Akademische Bildung für Roma

Gilda-Nancy Horvath
16. Mai 2022

Angela Kocze begann als Hilfsarbeiterin in einer Metallfabrik. Heute ist sie die Leiterin eines Programms an der Central European University (CEU), das Roma den Einstieg in die höhere Bildung ermöglicht.

Angela Kocze setzt sich für den Zugang von Roma an Universitäten ein
Angela Kocze ist Leiterin des Romani Studies Preparation Program (RSPP) an der Central European University (CEU)Bild: CEU

Angela Kocze musste auf ihrem Weg in die höchsten Riegen der akademischen Welt viele Barrieren überwinden. Nach ihrem Schulabschluss fing sie an, als Hilfskraft in einer Metallfabrik in der ungarischen Hauptstadt Budapest zu arbeiten. Damals lebte sie gemeinsam mit Sex-Arbeiterinnen und Alkohol-Kranken in schäbigen Arbeiter-Unterkünften. Sie schämt sich nicht, darüber zu sprechen, denn es sei "die beste soziologische Schule ihres Lebens" gewesen. Gleichzeitig wusste sie, dass sie nicht für immer so leben konnte.

Sie hatte den Wunsch, im Bildungsbereich aktiv zu werden, und so begann sie ein Jahr später als Lehr-Assistentin an einer Grundschule. Eine der größten Herausforderungen habe jedoch an einem unerwarteten Ort gelauert, erzählt die 52-Jährige im DW-Gespräch: in der limitierten Wahrnehmung und Erwartungshaltung anderer Menschen. Denn obwohl sie immer eine gute Schülerin war, gab es niemanden, der daran glaubte, dass sie jemals höhere Ziele verfolgen könne: "Ich habe oft erfahren, wie die Limitierung in der Wahrnehmung und Vorstellungskraft der Menschen um mich herum Einfluss auf mein Leben nahm. Es war ihnen einfach unmöglich, auch nur zu denken, dass jemand wie ich - aus einer armen Roma-Familie mit ungebildeten Eltern - es jemals an eine höhere Schule schaffen könnte, geschweige denn an eine Universität."

Aus der Fabrik an die Universität

Ihr täglicher Kampf war zermürbend und in ihr entstand der Wunsch nach einem sicheren Ort, an dem Menschen sich gegenseitig motivieren und stärken. Basierend auf diesem Gedanken gründete Angela Kocze im Jahr 1996 Romaversitas - ein Programm, das Roma-Studenten aus aller Welt miteinander verbindet und akademische Unterstützung anbietet. Im Jahr 2004 entstand dann das heutige Roma Graduate Preparation Program (RGPP) der Central European University (CEU), die mittlerweile ihren Sitz aus Budapest nach Wien verlegen musste.

Ziel des Programms ist es, strukturellen Rassismus als Tatsache und Herausforderung anzuerkennen und diesem bewusst etwas entgegenzusetzen, um all jenen Menschen zu helfen, die davon betroffen sind.

Angela Kocze (3.v.l.), die Leiterin des Romani Studies Program, mit Studentinnen und Studenten der CEU Bild: CEU

Als Leiterin des Programms fühlt Angela Kocze Verantwortung für all jene, die sich ihren Weg an die Universität ebenso hart erkämpfen müssen wie sie: "Es ist mir ein Anliegen, mein innerer Antrieb, einen Weg für all jene zu öffnen, die ihren Träumen folgen. Dieses Programm soll unseren Roma-Studenten zeigen, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind, dass es einen Ort gibt, an dem sie Hilfe erfahren und sich mit anderen, denen es ähnlich geht, austauschen können. Das ist echtes Empowerment."

Eine weitere große Herausforderung, der sich viele Roma-Studenten und Studentinnen stellen müssen, ist der Mangel an sichtbaren Role-Models. Deshalb hat Angela Kocze gemeinsam mit dem ungarischen Verlag Magvetö eine Initiative gestartet, die zum Ziel hat, diese Wissenslücke zu füllen. Eine Buch-Serie portraitiert zwei ikonische ungarische Roma-Persönlichkeiten, deren bürgerrechtliches Engagement großen sozio-politischen Einfluss hatte: Agnes Daroczi und Jenö Zsigo. Ihre Biographien sollen die historische Perspektive auf die soziale und politische Transformation Ungarns erweitern: "Diese Bücher sind sehr wichtig. Es geht darum, Roma nicht länger als eine isolierte Gruppe zu sehen, sondern ihre Perspektiven in den Mittelpunkt zu stellen und damit die Grenzen bisheriger sozio-politischer Narrative zu sprengen. Es ist die Rückeroberung der Geschichtsschreibung, die bisher immer nur über uns Roma geschah. So können wir unsere wahre Position, Rolle und Beziehung zu Ungarn und zu Europa endlich selbst sichtbar machen."

Um das Wissen über Roma auch in der akademischen Welt zu erweitern, bringt Angela Kocze regelmäßig Menschen aus universitären Netzwerken und Intellektuelle aus der Roma-Community zusammen. Dieser Austausch wird in Projekten wie dem Critical Romani Studies Journal oder in der CEU Summer University sichtbar. Dies soll auch dabei helfen, Roma-Studierende auf ihrem Weg mit wichtigen Kontakten zu unterstützten, denn sie würden in der akademischen Welt immer noch als Außenseiter wahrgenommen, erklärt sie.

Wie können wir die Menschheit retten?

Das Fach Soziologie hat Angela Kocze zu Beginn ihrer Karriere ganz bewusst gewählt, denn ihr Interesse galt schon immer den Menschen selbst: "In der Soziologie geht es um das wahre Leben, die Gesellschaft, soziale Strukturen und darum, wie Menschen miteinander agieren. Dieses Feld ist meine Berufung."

Angela Kocze: In der akademischen Welt werden Roma-Studierende immer noch als Außenseiter wahrgenommenBild: Privat

Genau deshalb beschäftigt sie sich auch mit der aktuellen globalen Situation und der Dynamik, die von COVID-19, finanziellen Krisen und dem russischen Angriff auf die Ukraine mit all seinen Auswirkungen geprägt sind. Sie ist überzeugt davon, dass wir Wege finden müssen, um die Menschheit vor einer kollektiven Depression zu bewahren: "Viele Menschen sind frustriert und desillusioniert. Bildung ist ein Ort sozialer Mobilisierung, an dem Dogmen reflektiert und hinterfragt werden können. Daher ist die Öffnung von Bildungs-Institutionen, in denen Hoffnung und gegenseitige Anerkennung gefördert werden, gelebter und miteinander geteilter Humanismus. Genau deshalb glaube ich fest daran, dass Bildung ein öffentliches Gut ist, ein Menschenrecht, das jeder Person, unabhängig von Rasse, politischer Einstellung oder Religion, zur Verfügung stehen sollte."

Angela Kocze will sich auch weiterhin für dieses Ziel einsetzen, denn für sie stellt Bildung die Voraussetzung dar, um die Welt und die Menschen, die darin leben, zu einem friedlichen Zusammenleben zu bewegen. Viele Studenten und Studentinnen an der CEU haben ihre Chance auf Bildung gut genutzt und arbeiten heute für europäische und internationale Organisationen oder haben eigene Projekte gegründet. Einige sind heute sogar in der Politik tätig.

Angela Kocze ist überzeugt davon, dass viele dieser Erfolgsgeschichten ohne die CEU nicht möglich gewesen wären: "Das Wirken all dieser Studenten ist bereits heute spürbar und wird in zehn oder zwanzig Jahren starken Einfluss in akademischen, sozialen und politischen Bereichen der gesamten Gesellschaft entfalten. Es erfüllt mich mit Freude und Hoffnung zu wissen, dass auch in Zukunft viele weitere Roma bei uns ihren Weg in die höhere Bildung beschreiten werden. Hier erhalten sie endlich jene Unterstützung und finanziellen Ressourcen, die sie davor nicht hatten."

Angela Kocze lehrt als Assistenz-Professorin im Romani Studies Program und ist seit 2017 die akademische Leiterin des Roma Graduate Preparation Program an der Central European University (CEU).

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