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Politik

Angela Merkel an der Wegscheide von Wien

24. September 2016

Flüchtlingsgipfel, die zweite: Wieder in Wien, wieder mit den Balkanstaaten, aber diesmal mit Merkel. Sieben Monate, nachdem die Hauptroute dicht gemacht wurde, könnten die Würfel im Sinne der Kanzlerin fallen.

Ein Flüchtling auf dem Münchner Hauptbahnhof zeigt im September 2015 ein Merkel-Foto (Archivbild: dpa)
Dank an die Kanzlerin: Ein Flüchtling auf dem Münchner Hauptbahnhof zeigt im September 2015 ein Merkel-FotoBild: picture-alliance/dpa/S. Hoppe

Sie war die Kanzlerin der Herzen. Mit drei Worten hatte Angela Merkel in der ganzen Welt Sympathiepunkte für Deutschland gesammelt. Doch jetzt, ein Jahr später, hängt der CDU-Regierungschefin kein Zitat so sehr nach wie ihr inzwischen vielfach kritisiertes "Wir schaffen das".

Merkel versuchte, den Satz scheibchenweise zu beschneiden, seine Sprengkraft abzuschwächen. Und der Flüchtlingsgipfel, zu dem an diesem Samstag in Wien die Regierungschefs der Staaten entlang der Balkanroute, aber auch Deutschlands mit dem österreichischen Bundeskanzler Christian Kern zusammenkommen, könnte der endgültige Wendepunkt werden.

"Humanitäre Notsituation"

Die Bilder vom Hauptbahnhof in München, wo im September letzten Jahres tausende Flüchtlinge die seither oft beschworene Willkommenskultur erlebten, sind blasser geworden. Die damalige Entscheidung, die Menschen aus Ungarn nach Österreich und schließlich nach Deutschland einreisen zu lassen, sei in einer "humanitären Notsituation" gefallen - so hieß es später in einem Gutachten des Deutschen Bundestages. Darin wurde hinterfragt, ob es rechtens war, dass die Flüchtlinge zunächst ohne Registrierung und Prüfung ihres Asylanspruchs die deutsche Grenze passieren durften.

Die Entscheidung, die Merkel in einer Spätsommernacht gemeinsam mit ihrem österreichischen Amtskollegen, dem damaligen Kanzler Werner Faymann, getroffen hatte, kostete diesen wenig später sein Amt als Regierungschef. Und auch Merkel geriet darob innenpolitisch unter Druck.

Rote Linie von Wien

Die Schwesterpartei CSU verlangt bis heute eine feste Obergrenze; Merkel widerspricht ebenso gebetsmühlenartig. Doch in Wien dürfte de facto eine rote Linie gezogen werden. Denn im Kern geht es darum, den Weg ins Zentrum Europas mit unüberwindlichen Hürden zu pflastern. Die Gipfelteilnehmer werden über Konzepte zur De-facto-Abschottung der EU-Außengrenze diskutieren. Kern plädiert außerdem für eine deutlich stärkere Hilfe in den Herkunftsländern.

Auf der letzten Wiener Konferenz im Februar - damals noch ohne Griechenland und Deutschland - war die Schließung der Balkan-Route beschlossen worden. Merkel saß seinerzeit nicht mit am Tisch, profitierte aber indirekt von der Entscheidung, weil diese zu einem starken Absinken der Flüchtlingszahlen in Deutschland führte.

Willkommenskultur: Das Selfie mit Flüchtling vom September 2015 ging um die WeltBild: picture-alliance/dpa/B. v. Jutrczenka

Das nahm innenpolitisch Druck aus dem Kessel, welchen die Kräfte am rechten Rand, allen voran die Alternative für Deutschland (AfD), nach Kräften befeuerten. Fürs erste schien das Kalkül der Kanzlerin aufzugehen, die für ihre pragmatische, nüchterne Analyse komplexer Situationen bekannt ist.

Ehen mit Verführungszauber

Die promovierte Physikerin Merkel hatte mit ihrer Entscheidung, die Grenzen zu öffnen, auch strategisch auf tektonische Verschiebungen in der deutschen Parteienlandschaft reagiert: Wo die klassischen Koalitionspaarungen ihre einst sicheren Mehrheiten einbüßen, gewinnen ungewohnte politische Ehen an Verführungszauber. Für die CDU - die Merkel zielstrebig nach links geöffnet hat - rückt auch jene grün-bürgerliche Klientel ins Beuteschema, die in Baden-Württemberg mit Winfried Kretschmann den ersten grünen Regierungschef eines Bundeslandes inthronisierte.

Doch zugleich wuchs in den vergangenen Monaten der Unmut in der Stammwählerschaft. "Wir schaffen das nicht", wurde zum geflügelten Wort. Merkels Umfragewerte stürzten ab, und sogar in den Reihen der Grünen wurden Stimmen laut wie die des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer, der zu einer Reduzierung der Flüchtlingszahlen mahnte.

Gewässer mit Untiefen

Wenn in Wien die Richtung festgeklopft werden sollte, die EU-Ratspräsident Donald Tusk in seiner Einladung zum EU Gipfel in Bratislava vor einer Woche andeutete, dann wird Europa seine Außengrenzen dicht machen. Bilder, die für die öffentliche Meinung gefährlich sind - Menschen, die vor der Haustür an Grenzzäunen rütteln -, dürften seltener werden. Die Flüchtlingszahlen werden weiter sinken, und das Gefühl von "Schutz und Stabilität", das die Europäische Union ihren Bürgern laut Tusk viel stärker vermitteln müsse, wird wachsen.

Dass die EU sich nicht länger auf andere verlassen dürfe, zeigten die Entwicklungen seit dem Inkrafttreten des Flüchtlingspakts mit der Türkei, sagen Kritiker. Der Putschversuch in Ankara und mehr noch dessen Folgen bewiesen überdeutlich, dass die Union sich hier in Gewässer mit Untiefen begeben habe.

Persönliches Mantra

Aber auch für Angela Merkel und ihre CDU sind "Schutz und Stabilität" Teil des Markenkerns. Ihre mögliche vierte Kanzlerkandidatur im Jahr 2017 steht und fällt damit, wie sie in ihrer Führungsfähigkeit auch innerhalb der eigenen Partei überzeugt. So ist die Konferenz von Wien für die Regierungschefin, die seit 2005 im Amt ist, auch eine wichtige Wegscheide für ihr ganz persönliches Mantra "Wir schaffen das".

jj/ml (dpa, afp, rtr)

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