Das außenpolitische Vermächtnis von Angela Merkel
9. August 2021Angela wer? Kaum jemand außerhalb Deutschlands kannte Merkel, als sie 2005 zum ersten Mal Bundeskanzlerin wurde. Und kaum jemand dürfte geahnt haben, welchen Stempel sie der Welt aufdrücken sollte.
Aber sie fasst schnell Tritt, auch in der Außenpolitik. Die gestaltet sie von Anfang an weitgehend selbst, statt sie dem jeweiligen Außenminister zu überlassen. Die Gastgeberin des G8-Gipfels im Ostseebad Heiligendamm 2007 geht bereits souverän mit den wichtigsten Staats- und Regierungschefs der Welt um. Im Rückblick betrachtet ist es eine beinahe heile Welt.
In der Eurokrise übernimmt Deutschland die Führungsrolle
Doch die Kanzlerin muss bald in den Krisenmodus schalten: 2008 bricht die weltweite Finanzkrise aus. Der Euro, eines der stärksten Symbole europäischer Einigung, gerät unter Druck. "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa", warnt die Regierungschefin.
Fast widerwillig übernimmt die wirtschaftsstärkste Nation der EU unter Merkel die Führungsrolle in Europa. Die Bundesregierung zwingt einerseits den besonders verschuldeten Ländern einen harten Spar- und Reformkurs auf; in Griechenland ziehen manche Kritiker sogar Parallelen zur deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Andererseits genehmigt Merkel umfangreiche europäische Hilfen. Die deutsche Haftung für die Schulden anderer Länder nimmt massiv zu.
Dass der Rest der EU die neue deutsche Führungsrolle insgesamt akzeptiert, ist auch Merkels sensiblem Auftreten zu verdanken. Sie verbindet eine "Kultur der Zurückhaltung" mit einer "Kultur der Verantwortung", wie es der Politikwissenschaftler Johannes Varwick von der Universität Halle im DW-Gespräch ausdrückt.
Der nicht mehr ganz so enge Partner Frankreich
Die gewachsene Rolle Deutschlands schafft auch ein Machtgefälle zu Frankreich. Zwar bekennt sich Merkel ausdrücklich zu diesem engsten Partner; für die gute Zusammenarbeit mit Präsident Nicolas Sarkozy erfinden die Medien sogar die Namenssymbiose Merkozy.
Aber die Forderungen verschiedener französischer Präsidenten, zuletzt von Emmanuel Macron, nach einer Vertiefung der EU, beispielsweise durch die Schaffung eines Euro-Finanzministers, lässt Merkel im Sande verlaufen.
Eine "verpasste Chance" nennt das Henning Hoff von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Varwick spricht gegenüber der DW von einer "zunehmenden Entfremdung" zu Frankreich; Merkel habe gerade mit Blick auf eine Vertiefung der EU "keine großen Visionen".
Fasziniert von China
Ansonsten setzt die Kanzlerin die Außenpolitik früherer Bundesregierungen fort: sachlich, ohne große Gesten, nach Möglichkeit im guten Einvernehmen mit allen Seiten, dabei die weltweiten deutschen Wirtschaftsinteressen im Blick.
Das zahlt sich aus: Der Handelsaustausch vor allem mit China nimmt rasant zu. Merkel reist oft nach China und scheint fasziniert. Hoff sieht bei ihr eine "an Ehrfrucht grenzende Bewunderung chinesischer Wirtschaftsmacht". Menschenrechtsfragen spricht sie dort nur vorsichtig an.
Auf die Kehrseiten einer immer stärkeren Abhängigkeit von China weisen eher die Amerikaner hin. Hoff meint, Merkel habe "die Gefahren, die von autokratischen Systemen, allen voran China und Russland, ausgehen, die eben auch auf geo-ökonomische Machtmittel, Desinformation und Untergrabung des Westens setzen, lange unterschätzt oder heruntergespielt".
Großzügige Asylpolitik
Wäre Angela Merkel Anfang 2015 abgetreten, so wäre eine insgesamt erfolgreiche Kanzlerschaft wohl schnell in Vergessenheit geraten. Aber nichts hat sie dann weltweit so bekannt gemacht, nichts hat aber auch im In- und Ausland derart polarisiert wie ihre einsame Entscheidung im Spätsommer 2015, die deutschen Grenzen für die ankommenden Flüchtlinge und Migranten offenzuhalten. Sie begründet das mit christlicher Nächstenliebe, auch mit ihrer Erfahrung als DDR-Bürgerin mit undurchdringlichen Grenzen. Merkel lässt sich bereitwillig auf Selfies mit syrischen Flüchtlingen ablichten, Deutschland wird zum Sehnsuchtsort für Menschen aus aller Welt.
Von den einen wird sie fast wie eine Heilige verehrt. Das Magazin "Time" kürt sie 2015 zur "Person des Jahres", gar zur "Kanzlerin der freien Welt". Andere, vor allem Regierungen in der östlichen EU, nehmen es ihr übel, dass sie versucht, ihre großzügige Asylpolitik der gesamten EU aufzuzwingen. Der Rechtspopulismus in Europa hat seitdem deutlich zugenommen.
Der Draht nach Washington kühlt ab
Merkel ist anfangs eine glühende Transatlantikerin. Noch als Oppositionspolitikerin tritt sie für den Irak-Krieg von US-Präsident George W. Bush ein, den die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung damals ablehnt.
Doch die Beziehungen kühlen ab, auch weil sich die USA unter Bush und seinem Nachfolger Barack Obama zunehmend nach Asien orientieren. Unter Obama, der Merkel rückblickend als seine wichtigste außenpolitische Partnerin bezeichnet, wird 2013 öffentlich, dass der US-Geheimdienst die Kanzlerin jahrelang ausspioniert hat. Merkel ist empört: "Das Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht."
Dunkle Wolken
Und dann verdüstert sich die weltpolitische Lage plötzlich sehr schnell: Russland annektiert 2014 die ukrainische Halbinsel Krim, die Briten stimmen 2016 in einem Referendum für einen Austritt aus der EU, in den USA wird kurz darauf Donald Trump Präsident. Er pfeift mit seinem Slogan "America first" auf den Multilateralismus, stellt sogar die NATO infrage.
Enttäuscht stellt Merkel 2017 mit Blick auf die USA fest: "Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei."
Die aufziehenden Gewitterwolken bewegen Merkel, bei der Bundestagswahl 2017 noch einmal als Kanzlerkandidatin anzutreten – und kann nach der Wahl die vierte Regierung führen.
Afghanistan-Debakel
Sie hat sich wohl spätestens seitdem als Fels in der weltpolitischen Brandung verstanden. "Deutschland ist mehr als andere auf multilaterale Rahmen angewiesen", so erklärt Varwick ihr Motiv.
Hoff bescheinigt ihr die "außergewöhnliche Fähigkeit, Europa und den Westen zusammen- und Konfliktparteien im Gespräch zu halten". Letzteres hat sie immer wieder, aber letztlich erfolglos, im Russland-Ukraine-Konflikt versucht. Allerdings bringt sie sich durch ihr Festhalten am deutsch-russischen Erdgasprojekt Nord Stream 2 auch in Gegensatz zu den USA und östlichen EU-Ländern.
Das Verhältnis zu den USA bessert sich allerdings wieder deutlich mit dem Amtsantritt von Joseph Biden 2021. Biden lädt Merkel im Juli als erste europäische Regierungschefin nach Washington ein und lobt ihr politisches Lebenswerk als "historisch".
Ganz am Ende ihrer Kanzlerschaft, Mitte August, zeigen sich, für Berlin und Washington überraschend, die Folgen einer kolossalen Fehleinschätzung sowohl Bidens als auch Merkels: Die Taliban übernehmen kurz nach dem Abzug der westlichen Truppen im Eiltempo ganz Afghanistan. Praktisch alles für die Zivilbevölkerung Erreichte droht nun verloren zu gehen. Die Bundesregierung reagiert viel zu spät und streitet um die Aufnahme afghanischer Ortskräfte, die blutige Rache der Taliban befürchten. Schon jetzt dürfte das Debakel als einer der dunkelsten Punkte in Merkels Regierungsbilanz eingehen.
"Nichts ist selbstverständlich"
Was ist außenpolitisch ihr Vermächtnis? Vielleicht das, was sie 2019 an der US-Universität Harvard bei der Verleihung ihrer 16. Ehrendoktorwürde sagte: "Nichts ist selbstverständlich. Unsere individuellen Freiheiten sind nicht selbstverständlich (was während der Corona-Pandemie noch ein heikles Thema werden sollte, d. Red.), Demokratie ist nicht selbstverständlich, Frieden nicht und Wohlstand auch nicht."
Merkels Stunde kam vor allem in Krisensituationen, und davon hat es in ihrer langen Kanzlerschaft eine ganze Reihe gegeben. Sie war nie eine mitreißende Rednerin, versprühte kaum Begeisterung. Aber vor allem in der Krise kam bei ihr zum Tragen, was Varwick "eine Mischung aus Pragmatismus, Durchsetzungsfähigkeit und persönlicher Robustheit" nennt.
Auch Hoff sieht sie als "unermüdliche Krisenmanagerin", die "Großes geleistet" habe. Allerdings sei es Merkel "stets vor allem um das Bewahren des Bestehenden" gegangen. Sie habe "die Krisen zu wenig als Chancen zum Aufbruch und grundlegenden Wandel genutzt", etwa indem sie für größere Integrationsschritte in der EU geworben hätte.
Varwick fasst Merkels Außenpolitik so zusammen: Sie habe verstanden, "dass Deutschland globale Interessen hat und Deutschland einerseits zu klein ist, um allein Dinge zu erreichen, anderseits aufgrund seiner Größe und Rolle in Europa zu Führung verdammt ist".