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Politik

Merkel: "Ich war nie blauäugig"

8. Juni 2022

Hätte man den russischen Überfall auf die Ukraine verhindern können? Über diese Frage denkt Angela Merkel oft nach. War ihre Russland-Politik zu nachsichtig? Die Altkanzlerin sieht rückblickend keine Fehler.

Deutschland Altkanzlerin Merkel zu Gespräch im Berliner Ensemble
Altkanzlerin Merkel zu Gespräch im Berliner EnsembleBild: Fabian Sommer/dpa/picture alliance

Ausspannen in ihrem Haus in Brandenburg, Urlaub in Italien, fünf Wochen "auslüften" an der Ostsee - Angela Merkel hat im vergangenen halben Jahr genau das gemacht, was sie vor der Übergabe des Kanzleramts an ihren Nachfolger versprochen hatte: Eine Pause machen und keine Einladungen annehmen. "Dann schauen wir mal, wo ich auftauche", hatte sie 2021 angekündigt.

Im April machte Angela Merkel Urlaub in RomBild: Stefano Spaziani/picture alliance

Nun ist die Altkanzlerin wieder aufgetaucht. Im prunkvollen, neobarocken Theatersaal des Berliner Ensembles mit seinem vielen Gold und roten Samt, vor rund 700 erwartungsvollen Zuschauern und vielen Medienvertretern ließ sie sich vom Autor und Journalisten Alexander Osang Fragen stellen.

Der Krieg macht Merkel zu schaffen

Merkel werde zu "den herausfordernden Fragen unserer Gegenwart" Stellung beziehen, hatte es in der Einladung geheißen. Was könnte in diesen Tagen herausfordernder sein, als der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und seine Folgen? Und was könnte in einem Gespräch mit Angela Merkel spannender sein, als die Frage, ob sie rückblickend in ihrer Regierungszeit Fehler erkennt oder nicht?

Die Situation in der Ukraine mache ihr sehr zu schaffen, sagte Merkel. Auch nach ihrer Amtszeit sei sie weiter ein politischer Mensch und deswegen auch bedrückt. "Natürlich hatte ich mir die Zeit nach meiner Amtszeit anders vorgestellt. Mit dem 24. Februar ist einfach eine Zäsur entstanden." Der russische Angriffskrieg sei ein "brutaler, Völkerrecht missachtender Überfall, für den es keine Entschuldigung gibt". 

Angela Merkel und Alexander Osang im Gespräch vor Publikum Bild: DW

Im Rückblick auf ihre 16 Jahre Regierungszeit fragte sich die Altkanzlerin, "was man vielleicht versäumt" habe. "Hätte man noch mehr tun können, um eine solche Tragik - ich halte diese Situation jetzt schon für eine große Tragik - verhindern zu können?"

Mehr Härte gegen Putin?

2014, nach der russischen Annexion der Halbinsel Krim hätte man dem russischen Präsidenten Wladimir Putin härter begegnen können, räumte Merkel ein. Man könne aber auch nicht sagen, dass damals nichts gemacht worden sei, betonte sie mit Verweis auf den Ausschluss Russlands aus der G8-Gruppe der führenden Industrienationen. Damals habe die NATO auch beschlossen, dass jedes Land zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben soll.

Da war die Welt scheinbar noch in Ordnung: G8-Gipfel mit US-Präsident Bush, Merkel und Putin 2007 in HeiligendammBild: Toshifumi Kitamura/AFP/Getty Images

Auch dass sie sich 2008 gegen eine NATO-Osterweiterung um die Ukraine und Georgien gewandt habe, verteidigte Merkel. "Die Ukraine war damals ein von Oligarchen beherrschtes Land, das konnte man nicht einfach in die NATO aufnehmen." Außerdem sei schon damals klar gewesen, dass Putin einen NATO-Beitritt nicht hingenommen hätte, sondern schon damals hätte "einen Riesenschaden in der Ukraine anrichten" können.

Wandel durch Handel

Immer wieder versetze sie sich in die Zeit zurück, sagte Merkel. Doch persönlich vorwerfen wollte sie sich rückblickend nichts. "Diplomatie ist ja nicht, wenn sie nicht gelingt, deshalb falsch gewesen. Also ich sehe nicht, dass ich da jetzt sagen müsste: Das war falsch, und werde mich deshalb auch nicht entschuldigen." Sie habe es "glücklicherweise ausreichend versucht" und es sei "eine große Trauer, dass es nicht gelungen ist".

Russland und die Ukraine: Lange verhandelten Wolodymyr Selenskyj, Angela Merkel, Emmanuel Macron und Wladimir Putin im sogenannten Minsker Format - erfolglosBild: Jacques Witt/Maxppp/dpa/picture alliance

Während der Kanzlerschaft von Merkel galt die Überzeugung, dass Europa mit Russland als Partner besser dastehe als in einer Konfrontation mit dem Kreml. Die CDU-Politikerin Merkel, aber auch ihr langjähriger Koalitionspartner SPD setzten auf eine wirtschaftliche Verflechtung, verbunden mit politischem und kulturellem Austausch. Dazu kam, dass Gas, Öl und Kohle aus Russland vergleichsweise günstig zu haben waren, was für die deutsche Wirtschaft von Vorteil war.

Die Sache mit dem Hund

Hat die Kanzlerin den russischen Präsidenten Wladimir Putin persönlich unterschätzt? Seinen Machtwillen, sein Aggressionspotenzial? Hätte sie nicht gewarnt sein sollen, als Putin 2007 bei einem Treffen in Sotschi provokativ seinen großen Hund mit zum Gespräch nahm, obwohl bekannt war, dass Merkel seit einem Biss Angst vor Hunden hat?

Gespräch mit Hund: Angela Merkel und Wladimir Putin 2007 in SotschiBild: ITAR-TASS/imago images

Bei dem Besuch in Sotschi habe Putin ihr gesagt, dass für ihn der Zerfall der Sowjetunion die schlimmste Sache des 20. Jahrhunderts gewesen sei. "Ich habe ihm gesagt, weißt du, für mich war das der Glücksumstand meines Lebens, denn so konnte ich in die Freiheit und dann auch das machen, was mir Spaß und Freude macht." In diesem Moment sei klar gewesen, "dass da ein großer Dissens ist, und dieser Dissens hat sich immer fortentwickelt". Es sei nie gelungen, den Kalten Krieg mit Russland wirklich zu beenden, urteilte die Altkanzlerin.

Wie mit Russland koexistieren?

Naiv sei sie nie gewesen. "Putins Hass, Putins - ja, man muss sagen - Feindschaft geht gegen das westliche demokratische Modell." Sie habe immer gewarnt: "Ihr wisst, dass er Europa zerstören will. Er will die Europäische Union zerstören, weil er sie als Vorstufe zur NATO sieht."

Diese Meinung teile sie ganz klar nicht, aber es sei in den ganzen Jahren eben auch nicht gelungen, eine Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die den Krieg hätte verhindern können, so Merkel. "Und darüber muss man schon nachdenken." Es sei auch im Interesse Deutschlands, einen "modus vivendi" mit Russland zu finden - so, dass beide Länder koexistieren könnten.

Froh über den neuen Lebensabschnitt

Dabei ist eine Sache für Merkel ganz klar: Militärische Abschreckung ist die einzige Sprache, die Putin versteht. Deshalb sei sie froh, dass die Bundeswehr nun besser ausgerüstet werde. "Ich bin jetzt heilfroh, dass wir nun uns endlich auch entscheiden, nachdem die ganze Welt bewaffnete Drohnen hat, dass wir auch welche kaufen." Mit einem Seitenhieb auf die SPD, mit der Merkels CDU lange Jahre koalierte, sagte die Altkanzlerin, es sei nicht an ihr gescheitert, "dass bestimmte Dinge nicht stattfinden" konnten. "Das war ein sehr zähes Ringen, überhaupt in die militärische Abschreckung zu investieren."

Plakat am Eingang des Berliner EnsemblesBild: DW

Gut eineinhalb Stunden dauerte das Gespräch im Berliner Ensemble, das sich zwar nicht nur, aber über weite Strecken um Russland und den Krieg in der Ukraine drehte. Angela Merkel wirkte gelöst und mit sich im Reinen. 2021 nicht wieder zur Wahl angetreten zu sein, sei die einzig richtige Entscheidung gewesen. "Ich habe 30 Jahre Politik gemacht und hatte immer Termine, Termine, Termine und war eigentlich sehr, sehr froh und glaube seitdem, dass ich mit diesem neuen Lebensabschnitt sehr gut zurechtkommen und auch sehr glücklich sein kann."

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