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KonflikteUkraine

Angst vor Angriffen auf AKWs in der Ukraine

Mikhail Bushuev
15. März 2022

Tschernobyl und Saporischschja: Attacken auf ukrainische Atomanlagen sorgen nicht nur in der Ukraine für Angst. Expertin Anna Veronika Wendland fordert mehr Sachlichkeit und eine bessere Krisenkommunikation.

Ukraine Kernkraftwerk Saporischschja - Live view
Den russischen Angriff auf AKW Saporischschja am 4.3.2022 konnte man zunächst live verfolgen Bild: Youtube

Tschernobyl braucht Strom: Auch fast 36 Jahre nach der Havarie des dortigen Reaktors müssen die in der Anlage verbliebenen Brennelemente mithilfe elektrischer Energie gekühlt werden. Und das ist angesichts des Kriegs in der Ukraine ein Problem. Kaum war am Montag die offenbar durch Beschuss unterbrochene Stromversorgung des ehemaligen Atomkraftwerks wiederhergestellt, teilte der ukrainische Netzbetreiber Ukrenergo mit, die reparierte Hochspannungsleitung zur Anlage sei erneut beschädigt worden. Mittlerweile soll die Stromversorgung des Unglücks-Reaktors von Tschernobyl nach der abermaligen Unterbrechung wiederhergestellt sein.

Die russische Armee hat seit dem 24. Februar bereits drei zivile Nuklearanlagen angegriffen, darunter das größte funktionierende Atomkraftwerk in Europa, Saporischschja, am 4. März.

Am Montag soll die russische Armee Munition in unmittelbarer Nähe zum ersten Reaktor platziert und gesprengt haben, meldete Energoatom. Diese Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.

Angriffe auf Nuklearanlagen dienten dem Zweck, Angst vor einer atomaren Katastrophe zu verbreiten, meint Anna Veronika Wendland im Interview der DW. Die Technik- und Osteuropahistorikerin ist Forschungskoordinatorin am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung und Befürworterin der friedlichen Nutzung der Kernenergie.

Ruine Tschernobyl

Neben dem Ziel, Angst zu verbreiten, "spielt als zweiter Faktor die Übernahme von Infrastrukturobjekten für die russische Seite eine große Rolle," sagt Wendland. Die Angst, die solche Angriffe international ausgelöst haben, hält Wendland aus mehreren Gründen für teilweise überzogen oder kontraproduktiv.

Sie gibt zu bedenken, dass die Öffentlichkeit ausführlicher über Risiken und mögliche Schäden informiert werden sollte - zum Beispiel hinsichtlich der AKW-Ruine Tschernobyl, die seit 20 Jahren stillgelegt ist. "Die rund 1900 Brennelemente, die in Tschernobyl noch gekühlt werden müssen, sind seit fast 21 Jahren raus aus dem Reaktor", sagt Technikhistorikerin Wendland. Entsprechend sei ihre "Nachzerfallsleistung" sehr gering. Damit wird der Prozess beschrieben, der in allen ausgedienten Brennelementen vorkommt und dafür sorgt, dass sie weiter Wärme entwickeln. Nach Wendlands Angaben sagen die Internationale Atomenergiebehörde IAEA und andere Fachleute wegen des geringen Wertes übereinstimmend, das in Tschernobyl keine akute Gefahr bestehe.

Zunächst habe die Anlage eine funktionierende Notstromversorgung mit Dieseltreibstoff, die etwa 48 Stunden die Kühlsysteme am Laufen hält. Doch selbst wenn die Notstromversorgung ausfallen sollte, hätte man je nach Wetterlage geschätzt bis zu 14 Tagen Zeit, um die Stromversorgung der Brennelementekühlung wiederherzustellen, umreißt Wendland den Zeitrahmen.

"Untragbare Situation"

Das schlimmste Szenario laut einem EU-Stresstest sehe vor, dass sich das Becken mit gelagerten Brennelementen auf circa 70 Grad Celsius erhitzen könnte. Daher betrachte die IAEA die Lage in Tschernobyl nicht als akut kritisch.

Die verlassene Stadt Pripjat in der Nähe vom Atomkraftwerk Tschernobyl Bild: Skyba Anton Vladimirovich

Wendland stellt jedoch klar, "dass es eine irreguläre und eine untragbare Situation ist, eine kerntechnische Anlage zu besetzen, sie von der Außenwelt kommunikativ und von ihrer Aufsicht abzuschneiden und ihr Personal als Geisel zu nehmen".

Dies sei schon eine ganze Liste von schweren Verstößen gegen sämtliche Konventionen, die auch Russland unterschrieben habe. "Daran gibt es überhaupt nichts zu deuteln."

Anders verhielte es sich mit dem Atomkraftwerk Saporischschja, das an zwei große Hochspannungsnetze angeschlossen ist. Dort seien die Gefahren um vielfaches höher, sagt Expertin Wendland, die für ihr Habilitationsprojekt von 2013 bis 2015 in einem vergleichbaren Kernkraftwerk in Riwne im Nordwesten der Ukraine arbeitete.

"Saporischschja ist eine andere Hausnummer"

In Saporischschja reiche der Treibstoff der Notstromversorgung für etwa sieben bis neun Tage. Der Ausfall dieser Systeme wäre schnell höchstproblematisch und könnte sich zu einem ähnlichen Szenario wie bei Fukushima entwickeln.

Bei einer Havarie würden sich die Brennelemente nach elf bis 15 Stunden auf 70 bis 80 Grad erhitzen: "Das ist eine ganz andere Hausnummer als in Tschernobyl. Aber, wie gesagt, da sind wir nicht", stellt Wendland klar. 

Ihre Lektion: Man müsse in der Krisenkommunikation zunächst erst mal beschreiben, wie die Lage ist. Nach dem russischen Angriff auf Saporischschja sei jedoch genau dies nicht passiert. 

"In der Nacht überschlugen sich die Falschmeldungen", erinnert sich die Expertin. "Noch in derselben Nacht haben der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba und Präsident Selenskij das ganz große Vokabular rausgeholt. Da war schon die Rede von einem Mega-Atomunfall in einem Ausmaß von sechs Tschernobyl. Ich kann verstehen, dass die Regierung in Kiew unter ungeheurem Druck steht. Sie schreit um Hilfe. Aber solche Entscheider und Leader müssen auch wissen - das ist nicht die richtige Krisenkommunikation."

Die Folge war, da ist Wendland sicher, dass "die Leute in Deutschland morgens anfingen, die Apotheken nach Jodtabletten abzuklappern". Dies führe am Ende nur zu einem Effekt der Entsolidarisierung nach dem Motto: "liebe Ukrainer, hört bitte auf, Widerstand zu leisten, damit wir keinen Schmerz erleiden."

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