Angst vor neuen Attentaten in London
8. Juli 2005Die Zahl der Todesopfer stieg nach Polizeiangaben auf mehr als 50. Zudem seien 700 weitere Menschen verletzt worden. Wegen des großen Schadens in den U-Bahnwaggons und am beschädigten Bus könne die Zahl nicht genauer beziffert werden, sagte der Londoner Polizeichef Ian Blair. Am Donnerstag hatten Unbekannte auf drei U-Bahn-Stationen und einen Bus in der Londoner Innenstadt Bomben-Attentate verübt.
Kaum 24 Stunden nach den Anschlägen wurden in der Millionen-Metropole erneut drei Bahnhöfe wegen Bombenalarms evakuiert. Nervöse Pendler meldeten der Polizei am Morgen zahlreiche verdächtige Päckchen. Daraufhin wurden die Bahnhöfe Euston, Liverpool Street und Charing Cross geschlossen und abgeriegelt. In einem Pub unweit der Station Liverpool Street, in deren Nähe am Donnerstagmorgen der erste der vier Sprengsätze in einer U-Bahn hochgegangen war, wurde ein verdächtiges Paket entdeckt. Suchtrupps mit Spürhunden durchkämmten das Gebiet. Das Ergebnis: falscher Alarm. Kurze Zeit später wurde der Bahnhof wieder geöffnet. Auch die anderen Stationen waren am Mittag wieder offen.
Unsicherheit
"Das ist ziemlich beängstigend", sagte die Chefin eines Cafes nahe der Station Liverpool Street, als sie zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden in Sicherheit gebracht wurde. "Wir werden diesen Bombenalarm wohl noch den ganzen Tag immer wieder haben, weil die Leute verständlicherweise sehr nervös sind." Die Evakuierungen führten auch dazu, dass der öffentliche Nahverkehr nach den Anschlägen nur sehr schleppend wieder in Gang kam. Die Polizei hatte allen Londonern empfohlen, wenn nicht unbedingt nötig am Freitag zu Hause zu bleiben.
Bei ihren Ermittlungen fand die Polizei bisher keinen Anhaltspunkt, dass die Explosion auf dem Bus von einem Selbstmordattentäter ausgelöst wurde, wie spekuliert worden war. Großbritanniens Premierminister Tony Blair sagte allerdings, er könne derzeit auch nichts ausschließen.
Tausende von Kameras
Die Ermittler in der britischen Hauptstadt stehen vor einer schwierigen Aufgabe. Sie müssen die Bilder aus den öffentlichen Überwachungskameras analysieren, Tonnen von Trümmern durchsuchen und noch kleinste Sprengstoffmengen prüfen. In London stehen so viele Überwachungskameras wie in kaum einer anderen europäischen Stadt. 1800 werden zur Überwachung der Bahnhöfe eingesetzt, weitere 6000 zur Kontrolle des U-Bahn-Netzes. Auch in einigen Bussen finden sich Kameras. Die Beamten müssen sich nun tausende Stunden Videomaterial ansehen.
Erschwert wird die Aufgabe nach Einschätzung des Sicherheitsexperten und früheren Geheimdienstmitarbeiters Charles Shoebridge dadurch, dass die Kameras von verschiedenen Behörden aufgestellt wurden und untereinander oft nicht verbunden sind. Die Ermittler werden versuchen, den Zeitpunkt herauszufinden, an dem die Bomben in die U-Bahn gebracht wurden. Danach können sie versuchen, den Mann zurückzuverfolgen, den sie als Terroristen verdächtigen.
Wie in Madrid
Die Möglichkeit weiterer Angriffe der Terroristen ist nach den Worten von Innenminister Clarke derzeit die größte Sorge der Polizei und der Sicherheitsdienste. Die Verbrecher könnten versuchen, die Zeit bis zu ihrer Ergreifung zu nutzen, um noch mehr Menschen zu töten. So war es auch in Madrid, wo im vergangenen Jahr bei ähnlichen Anschlägen 191 Menschen getötet worden waren. Drei Wochen später entdeckte die Polizei Verdächtige in einem Haus, in dem sie neue Bombenanschläge planten.
Genau wie in Madrid tragen auch die Anschläge von London die Handschrift der El-Kaida, wie Außenminister Jack Straw und Antiterrorexperten erklärten. Seit dem 11. September 2001 wird das Terrornetzwerk jedoch von den Geheimdiensten beobachtet. Es könnte sich erweisen, dass die El-Kaida lockerer organisiert ist, als bisher angenommen, und dass örtliche Terrorzellen ohne Anweisung Anschläge planen und verüben können. (Mehr zu diesem Thema im angehängten Stichwort)
High-Tech-Ermittlungen
Shoebridge erklärte, auch die Daten der geführten Mobilfunkgespräche in dem Gebiet würden in die Untersuchung einbezogen. Außerdem wollten die Ermittler die Herkunft des verwendeten Sprengstoffs klären und seine chemischen Einzelteile zum Hersteller zurückverfolgen. Einen weiteren Schlüssel könnten die kriminaltechnischen Beweise am Tatort liefern. Falls es sich um Selbstmordattentäter handelte, können ihre Überreste untersucht werden, falls nicht, suchen die Ermittler nach DNA oder Fingerabdrücken.
Auch der Geheimdienst kommt zum Einsatz. Alte Gespräche mit Informanten werden erneut geprüft, neue werden geführt. Shoebridge erklärte, die Behörden bemühten sich, eventuelle Fehler im System aufzuspüren, "weil der Geheimdienst versagt hat". (mas)