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Glaube

Anhalten – Aushalten – Innehalten – Halten

1. Oktober 2021

Sterbende sind Lebende bis zum Schluss. Diese Haltung erfordert ein Verständnis für die existentiellen Bruchstellen menschlichen Lebens, in denen oft nichts bleibt, Autonomie und Würde aber bis zuletzt zu achten sind.

Häusliche Betreuung
Bild: Robert Kneschke/Zoonar/picture alliance

Als ich Hanna danach fragte, was für sie die wichtigsten Momente in den Jahren der Begleitung ihres Mannes während seiner Erkrankung waren, an der er schließlich verstarb, erzählte sie nicht von seinem Tod, sondern vom Leben. Nie vorher und nie danach habe ich einen Menschen, von dem man als Trauernden spricht, weil er den Verlust eines nahe stehenden Menschen zu verarbeiten hat, mit so leuchtenden Augen von der Erinnerung erzählen sehen.

Hanna beschrieb in schillernden Farben und Bildern, wie sie und ihr geliebter Mann ihre vier Töchter großgezogen und gleichzeitig ihren Bauernhof bewirtschaftet haben, wie Hannes so Vieles immer selbst machen wollte. Beispielsweise die Reparatur des Dachs vom Stall, auf das er kletterte, als es nach einem Sturm beschädigt worden war, obwohl er eigentlich längst von seiner Krankheit gezeichnet war. Und welche Freude er daran hatte, die vier Mädchen in ihrer großen Unterschiedlichkeit in jedes neue Lebensjahr mit Geburtstagskuchen und Lichtermeer begleiten zu können – auch als sie längst schon dem Kindergartenalter entwachsen waren.

Zugleich: „Seine Krankheit war immer dabei. Die Mädchen sind in dem Wissen groß geworden, dass die Lebenszeit ihres Vaters stark begrenzt ist. Sie haben ihn, besonders im letzten halben Jahr, auch in all seiner Schwachheit erlebt, als ihn die Krankheit schließlich ans Bett gefesselt hat. Aber wir haben immer gemeinsam darüber gesprochen, zusammen geweint und zusammen gelacht, uns gemeinsam erinnert. Bis zum letzten Atemzug war er es, der mit uns als Totkranker über das Leben im Gespräch sein wollte und uns Mut gemacht hat. Das lässt uns bis heute mitten im Alltag ganz stark mit ihm verbunden sein. Wir fühlen, wie er irgendwie nach wie vor bei uns ist. Eben nur in anderer Weise. Unsere Anna von der Hospiz-Hilfe hat uns dabei all die Jahre wunderbar unterstützt.“

 

Was ist es, das diese Erzählung so besonders sein lässt? Was ist es, das hinter dieser erlebten Familiensituation tatsächlich zur Sprache kommt?

Vielleicht ist es der Mut zum Erzählen über diese gemachte Lebenserfahrung, zu dem Hanna schon wenige Wochen nach dem Tod von Hannes in der Lage ist. Vielleicht ist es Hannas Klarheit, mit der sie die Erinnerungen vom Schmerzhaften, Gebrochenen und von der erfahrenen Ohnmacht angesichts der Unmittelbarkeit von Endlichkeit ungeschminkt zu Wort kommen lässt.

Ganz augenscheinlich aber liegt vor allem in der geschilderten Erfahrung von gleichzeitiger Grenzerfahrung und Nähe so etwas wie die Quelle von Hannas tiefer Strahlkraft, die der Tod ihres geliebten Mannes und des Vaters ihrer Töchter ihr nicht nehmen konnte. Weil in diesem Sterbeprozess von Hannes nicht der Kampf mit der Einsamkeit quälte, sondern Begleitung erfahrbar war, weil mitten in der Unaufhaltsamkeit der Erkrankung haltende Hände spürbar waren – für Hannes als Patient, für Hanna am Küchentisch des Alltags, zuweilen einfach bei einer Tasse Tee, für die vier Abschied nehmenden Schwestern in ihrem unverbrüchlichen Zusammenhalt. Weil dieser Halt ihnen allen dabei half, die Würde als Trauernde und Sterbender wahren zu können, war Leben für Hannes bis zum letzten Atemzug möglich. Und für seine Familie auch darüber hinaus. Hanna findet Worte als Trauernde und als Liebende. Als solche spricht sie in großer Autonomie und zugleich ganz in Beziehung stehend.

Diese Kraft zum Erzählen gleicht damit plötzlich einer Aussage über das Leben selbst: Es braucht immer einen Sprecher und einen Empfänger, Absender und Adressat. Miteinander zu sprechen, braucht das Zuhören. Sprechen und Zuhören bedarf eines Gegenübers, es braucht ein In-Beziehung-Sein. Das aber ist immer schon ein Kennzeichen unseres Menschseins zu allen Zeiten, schon vor unserer Geburt im Mutterleib, verbunden mit der Nabelschnur des Lebens.

Gerade in den aktuellen Zeiten wird angesichts der Entscheidung vom Bundesgerichtshof zum §217 StGB zur Freigabe des assistierten Suizids immer wieder von der Wahrung der Autonomie des Menschen als höchstem Gut gesprochen. Weil diese Autonomie zu schützen ist, müsse Sterben und Tod am Ende ganz allein die Entscheidung des Betroffenen sein, wann er wie aus dem Leben scheiden wolle – egal zu welchem Zeitpunkt, ob erkrankt oder nicht. Manche gehen so weit zu formulieren „Mein Tod gehört mir“.

Ist das so?

Hannas Erzählung spricht von etwas anderem: vom geteilten Leben, das auf Beziehung fußt, die die Stimme und Wünsche und Rechte des Einzelnen nicht in Frage stellt, sondern aufrechterhält, indem jemand bleibt. Eine Beziehung, die standhält und aushält und innehalten lässt, weil sie eine Haltung hat: jene Haltung nämlich, die die Fragilität und Vulnerabilität des Lebens nicht als Widerspruch zum würdevollen Leben sieht, sondern als Teil dessen.

Die Bruchstellen des Lebens derart zu teilen, zeigt, wie wenig Autonomie genau dann verloren geht, wenn es gemeinhin am meisten befürchtet wird, solange Beziehung die Wahrung der Andersheit des Anderen als des Anderen bedeutet.

Genau das meint das hospizliche Versprechen: „Ich bleibe bei dir. Auch und gerade dann, wenn nichts anderes mehr bleibt. Weil du leben sollst bis zum Schluss.“

„Der wichtigste Moment? Es war der letzte seines Lebens hier auf der Erde, in dem nicht wir ihn, sondern er uns verabschiedet hat und mit einem Kuss auf die Stirn unserer jüngsten Tochter sagte: Geht ins Leben, ich bleibe bei Euch, auch wenn ihr mich nicht seht“, sagte Hanna zum Abschluss. Und lächelte mit Augen voller Erinnerung und Trost.

 

 

Bild: privat

Dr. Carmen Breuckmann-Giertz

Studienpräfektin des Erzbischöflichen Theologenkonvikts Collegium Albertinum

Die Autorin ist ehrenamtliche Hospizlerin, hat über 8 Jahre einen ambulanten Hospizdienst geleitet und ist aktiv als Vorsitzende der Hospiz Stiftung Niedersachsen in Hannover/ Braunschweig sowie im Vorstand des Deutschen Hospiz-und PallitaivVerbands e.V. in Berlin. Beruflich ist sie tätig in der Priester- und Diakonenausbildung des Erzbistums Köln als Studienpräfektin im Collegium Albertinum sowie als Studienleitung und stellv. Direktorin des Erzbischöflichen Diakoneninstituts.