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Anita Lasker-Wallfisch wird 95

Rick Fulker
16. Juli 2020

Sie spielte Cello - und überlebte dadurch den Holocaust. Anita Lasker-Wallfisch ist eine der letzten Zeitzeugen, die noch von Auschwitz erzählen können.

Holocaust-Überlebende Dr. Anita Lasker-Wallfisch (Foto: picture-alliance/dpa/empics/PA Wire/Y. Mok).
Das Mädchenorchester im KZ Auschwitz rettete ihr das Leben: Zeitzeugin Anita Lasker-WallfischBild: picture-alliance/dpa/empics/PA Wire/Y. Mok

Kann Kunst dem Leben einen Sinn stiften, es verändern oder sogar retten? Anita Lasker-Wallfisch gibt eine deutliche, lebensbejahende Antwort darauf. Sie war einst Cellistin im Mädchenorchester des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz und eine der wenigen, die überlebte. Am 17. Juli feiert sie ihren 95. Geburtstag.

"Der Rassismus ist leider nicht ausgestorben. Aber als menschliche Wesen tragen wir Verantwortung füreinander", sagte Anita Lasker-Wallfisch im Januar 2018 anlässlich einer Gedenkstunde für die Opfer des Holocaust im Bundestag. "Niemand ist mit dem Etikett 'Übermensch' oder 'Untermensch' auf die Welt gekommen. Wir sind diejenigen, die diese Etiketten erfunden haben."

Spätes Zeitzeugnis: "Ihr sollt die Wahrheit erben"

Erst relativ spät im Leben ist Anita Lasker-Wallfisch zur Fürsprecherin des Humanismus und der Toleranz geworden. Jahrzehntelang hatte sie sich geweigert, über ihre Kindheit in Deutschland zu sprechen oder über die Jahre, die sie in den Konzentrationslagern Auschwitz und Bergen-Belsen verbracht hatte. Nicht einmal mit ihren Kindern sprach sie darüber. Anfang der 1990er-Jahre schrieb sie dann ihre Autobiographie "Ihr sollt die Wahrheit erben". Erst 44 Jahre nach der Emigration kam sie wieder nach Deutschland, besuchte Schulklassen und erzählte aus ihrem Leben. Für ihr Engagement wurde sie im September 2019 mit dem Nationalpreis geehrt.

Ihre Geschichte ist eine von Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Musikaufführungen unter den schwierigsten Bedingungen, Flucht und letztendlich einer erfolgreichen musikalischen Laufbahn.

Als "Kriminelle" entging sie der Gaskammer

Anita Lasker wurde 1925 als jüngste von drei Schwestern in Breslau in eine deutsch-jüdische Familie geboren. Der Vater war Rechtsanwalt und die Mutter Violinistin. Über das, was das Nazi-Regime vorhatte, machten sich die Eltern keine Illusionen: Ende 1939 brachten sie Anitas älteste Schwester Marianne nach England in Sicherheit. Sich selbst konnten sie nicht retten. 1942 wurden sie deportiert, und Anita, damals 16 Jahre jung, sah Mutter und Vater nie wieder.

Anita Lasker-Wallfisch (r.) mit ihrer Schwester Renate Lasker-Harpprecht (l.) im Jahr 2001Bild: Imago/H. Galuschka

Anita und ihre Schwester Renate kamen in ein Kinderheim. Die Zwangsarbeit in einer Papierfabrik verschonte sie vor der Deportation. Dort fälschten sie Papiere für französische Zwangsarbeiter und ermöglichten ihnen damit die Rückreise in die Heimat. "Ich konnte es nie akzeptieren, wegen meiner Herkunft umgebracht zu werden und beschloss, den Deutschen einen besseren Grund zu geben, mich zu töten", sagte sie später.

Als die beiden Schwestern im Juni 1943 versuchten, mit gefälschten Pässen selbst zu fliehen, verhaftete man sie am Bahnhof und steckte sie ins Gefängnis. Fünf Monate später kamen die Schwestern getrennt voneinander nach Auschwitz. Für Anita, damals 18, sollte sich der Gefängnisaufenthalt als eine Art Glücksfall entpuppen. Denn der Transport dorthin erfolgte in einem Gefangenenzug und damit getrennt von den vielen anderen, die sofort nach ihrer Ankunft in Auschwitz in die Gaskammer kamen. "Wir hatten das Glück, nicht als Juden sondern als Kriminelle eingestuft zu werden", sagte Anita Lasker-Wallfisch viele Jahre später bei einer Ansprache im ehemaligen KZ Bergen-Belsen.

Das Cello hielt sie weiter am Leben

Nachdem sie fast beiläufig erwähnt hatte, dass sie Violoncello spielen konnte, wurde die junge Frau in ein Orchester unter der Leitung von Alma Rosé, der Nichte Gustav Mahlers, aufgenommen. "Das Cello rettete mein Leben", sagte sie später. Wenn die Zwangsarbeiter das Lager morgens im Gleichschritt verließen und abends wieder zurückkehrten, lieferte das Orchester die Marschmusik dazu. Sonntags spielten die Mädchen für die SS.

Im November 1944, als sich sowjetische Truppen Auschwitz näherten, mussten Anita und ihre Schwester ins Konzentrationslager Bergen-Belsen. "Niemand von uns hätte je geglaubt, dass wir Auschwitz nicht durch den Schornstein verlassen würden", sagte sie. "Wir wussten nicht von einem Tag auf den anderen, ob wir überleben würden. Ständig verschwanden Menschen. Sogar die Art und Weise, wie wir nach Bergen-Belsen kamen: Zehn Minuten vorher wusste niemand, dass wir in Viehwagen sitzen würden."

Zwei weibliche Häftlinge nach der Befreiung des KZ Bergen-Belsen im April 1945Bild: picture-alliance/akg-images

Emigration nach Großbritannien

Im extrem überfüllten KZ Bergen-Belsen waren die Lebensbedingungen noch schlechter. Viele starben an Unterernährung. Anita Lasker-Wallfisch wurde sogar Zeugin von Kannibalismus. "Auschwitz war ein Lager, in dem man Menschen systematisch ermordete", schrieb sie später in ihren Erinnerungen. "In Belsen krepierte man einfach." Aber selbst dort wurde Musik gespielt: Anita musizierte in einem Ensemble von elf Musikerinnen.

Nach der Befreiung des Lagers durch die britische Armee am 15. April 1945 sagte Anita Lasker-Wallfisch als Zeugin im Gerichtsprozess um Bergen-Belsen aus. Sie wanderte nach Belgien aus und zog 1946 weiter nach Großbritannien. In London war sie Gründungsmitglied des English Chamber Orchestra und spielte in diesem Ensemble bis zur Jahrtausendwende. Lasker heiratete den Pianisten Peter Wallfisch, der auch aus Breslau stammte und als Dozent am Royal College of Music in London unterrichtete. Zwei Kinder gingen aus dieser Ehe hervor.

Überraschender Optimismus

Seit den 1990er-Jahren reist Anita Lasker-Wallfisch immer wieder nach Deutschland, besucht Schulklassen und erzählt von ihrem Leben während der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust. "Es hat 50 Jahre gebraucht, bis man über dieses Thema überhaupt gesprochen hat", sagte sie jüngst in einem Interview des Bayerischen Rundfunks. "Aber glauben Sie nicht, dass ich nicht das ganze Leben daran denke."

Im Juni 2015 gehörte Anita Lasker-Wallfisch zu den Holocaust-Überlebenden, die zum Besuch von Königin Elizabeth II. auf dem Gelände des einstigen Konzentrationslagers Bergen-Belsen eingeladen wurden. Der rote Pullover, den sie dort Jahrzehnte früher getragen hatte, wird im Imperial War Museum in London ausgestellt. 2016 erhielt sie den Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museums in Berlin.

Lasker-Wallfisch (r.) im Gespräch mit Königin Elizabeth II. in Bergen-Belsen 2015Bild: Reuters/F. Bimmer

Anita Lasker-Wallfisch lebt heute in London. Ihre Botschaft ist auch eine optimistische. "Solange man atmet, hofft man", sagt sie. "Ich habe mit tausenden von Schülern gesprochen. Wenn nur zehn sich ordentlich verhalten, werde ich zufrieden sein."

Ermahnung, Optimismus und ein Aufruf gehören zu den Botschaften von Anita Lasker-Wallfisch: "Bevor ihr euch totschlagt, geht eine Tasse Kaffee trinken. Macht irgendwas zusammen und interessiert euch. Feiert das, wodurch ihr euch unterscheidet!"

Ehrung für Lasker-Wallfisch

02:41

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Dies ist die aktualisierte Fassung eines früheren Artikels.

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